Krankenhausbehandlung eines Rentners während eines Besuchs in anderem Mitgliedstaat

Übernahme der Arztkosten darf weder von Genehmigung noch von plötzlichem Krankheitsausbruch abhängig gemacht werden
(C-326/00 vom 25.02.2003, Ioannidis)

Der Fall:

Der griechische Staatsbürger Vasileios Ioannidis ist wohnhaft in Griechenland und bezieht dort vom griechischen Sozialversicherungsträger eine Altersrente. Während eines Aufenthalts in Deutschland war es wegen dringender Schmerzen im Brustkorb erforderlich geworden, Herrn Ioannidis in einer Spezialklinik für Herz- und Kreislauferkrankungen stationär zu behandeln. Herr Ioannidis besaß das Formular E 111 und stellte im Dezember 1996 bei der deutschen Krankenkasse einen Antrag auf Übernahme der Krankenhauskosten, die sie sich wiederum vom griechischen Sozialversicherungsträger erstatten lassen sollte, wie es die Verordnung über die soziale Sicherheit vorsieht. Jedoch verlangte die deutsche Krankenkasse vom griechischen Sozialversicherungsträger die Ausstellung des Formulars E 112, welches erforderlich ist, wenn ein Versicherter eine Genehmigung einholen will, um sich zu einer ärztlichen Behandlung in einen anderen Mitgliedstaat zu begeben. Der griechische Sozialversicherungsträger lehnte die Übernahme der Kosten jedoch mit der Begründung ab, dass es sich bei der Erkrankung des Herrn Ioannidis um eine chronische Erkrankung handle, die nicht so plötzlich aufgetreten sei, um eine sofortige Behandlung in Deutschland zu rechtfertigen. Griechischem Recht zufolge könne die Kostenübernahme von einem im Ausland behandelten Rentner nachträglich nur dann genehmigt werden, wenn während des Auslandaufenthalts die Krankheit plötzlich auftrete und unverzüglich behandelt werden müsse.

Laut Europäischem Gerichtshof gelten für die Kostenübernahme von im Ausland behandelten Rentnern unterschiedliche Voraussetzungen als die, die bei Arbeitnehmern gelten. So könne der den Rentnern durch die Verordnung über die soziale Sicherheit garantierte Anspruch auf Sachleistungen nicht auf solche Fälle beschränkt werden, in denen die Behandlung aufgrund einer plötzlichen Erkrankung erforderlich erscheine. Insbesondere könne eine chronische Erkrankung einen Rentner nicht daran hindern, Leistungen in Anspruch zu nehmen, die angesichts seines Gesundheitszustandes während eines Auslandsaufenthalts erforderlich geworden seien. Grundsätzlich habe der Sozialversicherungsträger des Wohnorts die Kosten dem Sozialversicherungsträger des Aufenthaltsorts zu ersetzen. Dies gelte jedoch nicht, wenn der Sozialversicherungsträger des Aufenthaltsortes die Kostenübernahme zu Unrecht abgelehnt habe, und der Sozialversicherungsträger des Wohnortes nicht dazu beigetragen habe, eine solche Übernahme zu erleichtern, obwohl er dazu verpflichtet gewesen wäre. In diesem Fall könne der Versicherte die Kostenübernahme, die weder von einem Genehmigungsverfahren noch davon abhängig gemacht werden könne, dass die Krankheit plötzlich auftritt, vom Sozialversicherungsträger des Wohnortes verlangen.

Das Urteil:

1. Artikel 31 der durch die Verordnung (EWG) Nr. 2001/83 des Rates vom 2. Juni 1983 geänderten und aktualisierten Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 des Rates vom 14. Juni 1971 zur Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und Selbständige sowie deren Familienangehörige, die innerhalb der Gemeinschaft zu- und abwandern, in der durch die Verordnung (EG) Nr. 3096/95 des Rates vom 22. Dezember 1995 geänderten Fassung ist dahin auszulegen, dass der Bezug von Sachleistungen, die diese Bestimmung den Rentnern garantiert, die sich in einem anderen Mitgliedstaat als dem aufhalten, in dem sie wohnen, nicht davon abhängt, dass die Krankheit, die der betreffenden Behandlung bedurfte, plötzlich während dieses Aufenthalts aufgetreten ist und die unverzügliche Behandlung erforderlich gemacht hat. Diese Bestimmung verwehrt es daher einem Mitgliedstaat, den Bezug dieser Leistungen einer solchen Voraussetzung zu unterwerfen.

2. Artikel 31 der durch die Verordnung Nr. 2001/83 geänderten und aktualisierten Verordnung Nr. 1408/71 in der durch die Verordnung Nr. 3096/95 geänderten Fassung verwehrt es einem Mitgliedstaat, den Bezug der durch diese Bestimmung garantierten Sachleistungen irgendeinem Genehmigungsverfahren zu unterwerfen.

3. Die Gewährung und die Übernahme der Sachleistungen im Sinne von Artikel 31 der durch die Verordnung Nr. 2001/83 geänderten und aktualisierten Verordnung Nr. 1408/71 in der durch die Verordnung Nr. 3096/95 geänderten Fassung haben normalerweise nach Maßgabe dieses Artikels in Verbindung mit Artikel 36 der Verordnung Nr. 1408/71 sowie den Artikeln 31 und 93 der durch die Verordnung Nr. 2001/83 geänderten und aktualisierten Verordnung (EWG) Nr. 574/72 des Rates vom 21. März 1972 über die Durchführung der Verordnung Nr. 1408/71 in der durch die Verordnung Nr. 3096/95 geänderten Fassung zu erfolgen.

4. Zeigt sich, dass der Träger des Aufenthaltsorts die Gewährung der Sachleistungen im Sinne von Artikel 31 der durch die Verordnung Nr. 2001/83 geänderten und aktualisierten Verordnung Nr. 1408/71 in der durch die Verordnung Nr. 3096/95 geänderten Fassung zu Unrecht abgelehnt hat und dass der Träger des Wohnorts, nachdem er über diese Ablehnung unterrichtet worden war, zu Unrecht nicht dazu beigetragen hat, die korrekte Anwendung dieser Vorschrift zu erleichtern, wozu er verpflichtet gewesen wäre, so obliegt es dem Träger des Wohnorts ungeachtet einer etwaigen Haftung des Trägers des Aufenthaltsorts, dem Versicherten die Behandlungskosten, die dieser zu tragen hatte, unmittelbar zu erstatten, um ihm eine Kostenübernahme in der Höhe zu garantieren, wie er sie hätte in Anspruch nehmen können, wenn die Bestimmungen dieser Vorschrift beachtet worden wären.

5. In diesem Fall stehen die Artikel 31 und 36 der durch die Verordnung Nr. 2001/83 geänderten und aktualisierten Verordnung Nr. 1408/71 in der durch die Verordnung Nr. 3096/95 geänderten Fassung sowie die Artikel 31 und 93 der durch die Verordnung Nr. 2001/83 geänderten und aktualisierten Verordnung Nr. 574/72 in der durch die Verordnung Nr. 3096/95 geänderten Fassung einer nationalen Regelung entgegen, die diese Erstattung von einer nachträglichen Genehmigung abhängig macht, die nur erteilt wird, wenn nachgewiesen ist, dass die Krankheit, die der fraglichen Behandlung bedurfte, plötzlich während des Aufenthalts aufgetreten ist und die unverzügliche Behandlung erforderlich gemacht hat.

Die Pressemitteilung:

Urteil des Europäischen Gerichtshofes in der Rechtssache C-326/00: Idryma Koinonikon Asfaliseon (IKA)/Vasileios Ioannidis

Pressemitteilung des Europäischen Gerichtshofes vom 25. Februar 2003

Der Gerichtshof entscheidet erneut über im Ausland in Anspruch genommene medizinische Behandlungen

Ein Mitgliedstaat kann die Übernahme von Arztkosten eines Rentners, der sich zu Besuchszwecken in einen anderen Mitgliedstaat begeben hat, weder von einer Genehmigung noch davon abhängig machen, dass die Krankheit, unter der der Betreffende leidet, plötzlich ausgebrochen ist.

Herr Ioannides wohnt in Griechenland und bezieht dort eine Altersrente. Während einer Deutschlandreise musste er wegen einer Angina pectoris dringend in ein Krankenhaus eingeliefert werden. Er war im Besitz eines gültigen Vordrucks E 1111, der vom griechischen Sozialversicherungsträger (IKA) ausgestellt worden war, und beantragte bei der deutschen Krankenkasse, dass diese die Krankenhauskosten unmittelbar zahle und sie sich anschließend vom IKA erstatten lasse, wie es die Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 vorsieht. Die deutsche Krankenkasse ersuchte jedoch das IKA um Ausstellung des Vordrucks E 112, der erforderlich ist, wenn ein Versicherter eine Genehmigung einholen will, um sich zu einer ärztlichen Behandlung in einen anderen Mitgliedstaat zu begeben.

Das IKA lehnte jede Übernahme der betreffenden Kosten mit der Begründung ab, dass Herr Ioannides unter einer chronischen Krankheit leide und die Verschlechterung seines Gesundheitszustands nicht plötzlich eingetreten sei. Nach griechischem Recht kann die Erstattung der von einem Rentner im Ausland gezahlten Arztkosten nachträglich nur genehmigt werden, wenn die Krankheit plötzlich während des Aufenthalts auftritt und unverzüglich behandelt werden muss.
Nachdem dem Einspruch von Herrn Ioannides stattgegeben worden war, erhob das IKA Klage bei einem griechischen Gericht. Das griechische Gericht hat daraufhin dem Gerichtshof der EG Fragen nach der Vereinbarkeit der genannten griechischen Regelung mit dem Gemeinschaftsrecht vorgelegt.

Der Gerichtshof weist zunächst darauf hin, dass es Sache des nationalen Gerichts sei, zu prüfen, ob die dem Betreffenden gewährte Behandlung geplant gewesen sei und ob sein Aufenthalt in einem anderen Mitgliedstaat von vornherein medizinischen Zwecken habe dienen sollen; in diesem Fall sei nach der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 für eine unmittelbare Übernahme der Sachleistungen durch den Träger des Mitgliedstaats, in dem die Behandlung gewährt wurde, eine vorherige Genehmigung (Vordruck E 112) erforderlich. In der vorliegenden Rechtssache sei das nationale Gericht offenbar davon ausgegangen, dass dieser Fall nicht vorliege.
Weiter bestünden nach der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 hinsichtlich der Übernahme einer ärztlichen Behandlung, die anlässlich eines Aufenthalts in einem anderen Mitgliedstaat als demjenigen des Wohnorts des Sozialversicherten erforderlich geworden sei, Unterschiede zwischen der Situation von Rentnern und derjenigen von Arbeitnehmern. Nach Ansicht des Gerichtshofes hat der Gemeinschaftsgesetzgeber insbesondere das Ziel verfolgt, die effektive Mobilität der Rentner zu fördern und dabei ihre größere gesundheitliche Anfälligkeit und Abhängigkeit zu berücksichtigen.

So mache die Gemeinschaftsregelung die Übernahme der dem Rentner anlässlich eines Aufenthalts in einem anderen Mitgliedstaat gewährten Behandlung nicht von der für Arbeitnehmer geltenden Voraussetzung abhängig, dass der Zustand des Betreffenden unverzüglich Leistungen während dieses Aufenthalts erfordere.
Der Anspruch auf die Rentnern durch die Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 garantierten Sachleistungen könne namentlich nicht auf die Fälle beschränkt werden, in denen die Behandlung aufgrund einer plötzlichen Erkrankung erforderlich erscheine. Insbesondere könne der bloße Umstand, dass der Rentner unter einer chronischen Erkrankung leide, die bereits vor seinem Aufenthalt bekannt gewesen sei, ihn nicht an der Inanspruchnahme von Leistungen hindern, die durch die Entwicklung seines Gesundheitszustands während des Aufenthalts erforderlich geworden seien.
Im Übrigen gelte für die in dieser Weise garantierte Übernahme der Arztkosten von Rentnern in einem anderen Mitgliedstaat der Grundsatz, dass die Kosten dem Träger des Aufenthaltsorts vom Träger des Wohnorts erstattet würden.

Wenn allerdings der Träger des Aufenthaltsorts die Übernahme der Leistungen zu Unrecht abgelehnt habe und der Träger des Wohnorts nicht dazu beigetragen habe, eine solche Übernahme zu erleichtern, wozu er verpflichtet gewesen wäre, könne der Versicherte die Erstattung der von ihm getragenen Behandlungskosten unmittelbar vom Träger des Wohnorts erhalten. Diese Erstattung könne weder von einem Genehmigungsverfahren noch von dem Erfordernis abhängig gemacht werden, dass die Krankheit plötzlich aufgetreten sei.

Originaltext des Urteils:

Urteil des Europäischen Gerichtshofes in der Rechtssache C-326/00: Ioannidis