Erwerb medizinischer Erzeugnisse und zahnärztliche Behandlung in anderem Mitgliedstaat

Kostenerstattung darf nicht von vorheriger Genehmigung der Krankenkasse abhängig gemacht werden
(C-120/95, Decker und C-158/96, Kohll vom 28.04.1998)

Der Fall:

Die Herren Nicolas Decker und Raymond Kohll sind luxemburgische Staatsangehörige, die von ihren jeweiligen Krankenkassen die Erstattung von im Ausland angefallenen Krankheitskosten begehrten.
Herr Decker hatte in Belgien eine Brille erworben. Die Erstattung der Kosten wurde von seiner Krankenkasse mit der Begründung abgelehnt, dass Herr Decker für den Kauf eine Genehmigung hätte beantragen müssen.
Im Falle des Herrn Kohll ging es um den Antrag eines in Luxemburg niedergelassenen Arztes, der minderjährigen Tochter Herrn Kohlls eine Zahnregulierung bei einem Zahnarzt in Deutschland zu genehmigen. Dieser Antrag wurde mit der Begründung abgelehnt, die Behandlung sei nicht dringend und könne auch in Luxemburg erbracht werden.

Laut Europäischem Gerichtshof darf die Kostenerstattung sowohl für die Brille als auch für die fragliche Zahnbehandlung nicht von einer vorherigen Genehmigung der Krankenkasse abhängig gemacht werden. Ansonsten käme es im ersten Fall zu einer ungerechtfertigten Behinderung des freien Warenverkehrs und im zweiten Fall zu einer Verletzung der Dienstleistungsfreiheit.

Das Urteil:

Decker:
Eine nationale Regelung, nach der ein Träger der sozialen Sicherheit eines Mitgliedstaates einem Versicherten die pauschale Kostenerstattung für eine Brille mit Korrekturgläsern, die dieser bei einem Optiker in einem anderen Mitgliedstaat gekauft hat, mit der Begründung versagt, dass der Erwerb medizinischer Erzeugnisse im Ausland der vorherigen Genehmigung bedarf, verstößt gegen die Artikel 301 und 362 EG-Vertrag.
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1 Jetzt Artikel 28 EG.
2 Jetzt Artikel 30 EG.

Kohll:
Eine nationale Regelung, die die Erstattung der Kosten für Zahnbehandlung durch einen Zahnarzt in einem anderen Mitgliedstaat nach den Tarifen des Versicherungsstaats von der Genehmigung des Trägers der sozialen Sicherheit des Versicherten abhängig macht, verstößt gegen die Artikel 593 und 604 EG-Vertrag.
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3 Jetzt Artikel 49 EG.
4 Jetzt Artikel 50 EG.

Die Pressemitteilung:

Urteile des Europäischen Gerichtshofes in den Rechtssachen C-120/95 und C-158/96: Nicolas Decker/Caisse de maladie des employés privés
und Raymond Kohll/Union des caisses de maladie

Pressemitteilung des Europäischen Gerichtshofes Nr. 26/98 vom 28. April 1998

Gemeinschaftsangehörige können in einem anderen Mitgliedstaat medizinische Erzeugnisse erwerben sowie sich zahnärztlich behandeln lassen und hierfür Kostenerstattung nach den Sätzen des Versicherungsstaats beanspruchen.

Die Rechtsstreitigkeiten vor dem Gerichtshof betreffen die Erstattung der Kosten für Brillen und für Zahnregulierungen in ambulanter Behandlung.

Der Conseil arbitral des assurances sociales und die luxemburgische Cour de cassation waren mit zwei Rechtsstreitigkeiten zwischen luxemburgischen Staatsangehörigen und ihrer Krankenkasse befasst. Sie haben dem Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften die Frage vorgelegt, ob nationale Regelungen mit dem Gemeinschaftsrecht vereinbar sind, nach denen die Erstattung von im Ausland angefallenen Krankheitskosten von einer vorherigen Genehmigung abhängig gemacht wird.

Der Kläger Decker erhielt keine Kostenerstattung für eine Brille, die er bei einem Optiker in Arlon (Belgien) gekauft hatte, da dieser Kauf ohne vorherige Genehmigung im Ausland stattgefunden habe. Im Fall des Klägers Kohll hatte sein in Luxemburg niedergelassener Arzt die Genehmigung der Union des caisses de maladie beantragt, damit seine minderjährige Tochter sich einer Zahnregulierung bei einem Zahnarzt in Trier (Deutschland) unterziehen könne. Diese im Code d'assurances sociales vorgesehene Genehmigung wurde mit der Begründung versagt, die Behandlung sei nicht dringend und könne auch in Luxemburg erbracht werden.

Der Gerichtshof hat diese Regelungen, die die Übernahme von im Ausland entstandenen Krankheitskosten von der Genehmigung eines Trägers der sozialen Sicherheit abhängig machen, an den Bestimmungen über den freien Warenverkehr und den freien Dienstleistungsverkehr gemessen.

Die Bestimmungen über den freien Warenverkehr
Der Kläger Decker bringt vor, eine nationale Regelung, kraft deren einem Versicherten die Erstattung für in einem anderen Mitgliedstaat erworbene medizinische Erzeugnisse versagt werde, stelle eine nicht gerechtfertigte Beeinträchtigung des freien Warenverkehrs dar.

Der Gerichtshof stellt fest, dass diese Regelung die Erstattung von Kosten für medizinische Erzeugnisse, die in einem anderen Mitgliedstaat angefallen sind, von einer vorherigen Genehmigung abhängig macht und sie Versicherten versagt, die keine solche Genehmigung besitzen. Eine solche Regelung behindere den freien Warenverkehr, da sie die Versicherten dazu veranlasse, Erzeugnisse im Großherzogtum und nicht in anderen Mitgliedstaaten zu kaufen, und daher geeignet seien, die Einfuhr von Brillen zu hemmen, die in diesen Staaten erworben und angepasst worden sind.

Die Versagung der Pauschalerstattung für in einem anderen Mitgliedstaat gekaufte Brillen sei auch nicht gerechtfertigt, da sie keine Auswirkungen auf die Finanzierung oder das Gleichgewicht des Systems der sozialen Sicherheit im Großherzogtum habe. Zudem seien die Bedingungen des Zugangs zu geregelten Berufen und ihrer Ausübung Gegenstand einer Gemeinschaftsrichtlinie, die eine allgemeine Regelung zur Anerkennung beruflicher Befähigungsnachweise vorsehe. Daher biete der Kauf einer Brille bei einem Optiker in einem anderen Mitgliedstaat Garantien, die denen gleichwertig seien, die beim Kauf einer Brille bei einem Optiker im Großherzogtum gegeben seien.

Die Bestimmungen über den freien Dienstleistungsverkehr
Der Kläger Kohll meint, es stelle eine Beschränkung des freien Dienstleistungsverkehrs dar, dass die Übernahme erstattungsfähiger Krankheitsleistungen nach den Modalitäten des Rechts des Versicherungsstaats von der vorherigen Genehmigung des Trägers dieses Staates abhängig gemacht werde, wenn die Leistungen in einem anderen Mitgliedstaat erbracht würden.

Der Gerichtshof stellt fest, dass es im Ausgangsverfahren um eine Behandlung in der Praxis eines in einem anderen Mitgliedstaat niedergelassenen Zahnarztes geht und dass diese Leistung als Dienstleistung anzusehen ist. Die streitige Regelung halte die Sozialversicherten davon ab, sich an ärztliche Dienstleistungserbringer in einem anderen Mitgliedstaat zu wenden, und stelle sowohl für diese wie für ihre Patienten eine Behinderung des freien Dienstleistungsverkehrs dar.

Zwar sei nicht ausgeschlossen, dass eine erhebliche Gefährdung des finanziellen Gleichgewichts des Systems der sozialen Sicherheit eine solche Beschränkung rechtfertigen könne, jedoch habe die Erstattung von Kosten einer zahnärztlichen Behandlung in einem anderen Mitgliedstaat nach den luxemburgischen Tarifen keine wesentlichen Auswirkungen auf die Finanzierung des luxemburgischen Systems der sozialen Sicherheit. Außerdem könnten die Mitgliedstaaten den freien Dienstleistungsverkehr im Bereich der ärztlichen und klinischen Versorgung aus Gründen der öffentlichen Gesundheit beschränken. Es sei jedoch nicht nachgewiesen, dass die streitige Regelung erforderlich sei, um eine ausgewogene, allen zugängliche ärztliche und klinische Versorgung sicherzustellen. Auch sei nicht vorgetragen, dass sie zur Erhaltung eines bestimmten Umfangs der medizinischen und pflegerischen Versorgung oder eines unabdingbaren Niveaus der Heilkunde im Inland erforderlich sei.

Originaltext des Urteils:

Urteil des Europäischen Gerichtshofes in der Rechtssache C-120/95: Decker

Originaltext des Urteils:

Urteil des Europäischen Gerichtshofes in der Rechtssache: C-158/96: Kohll