Aufenthaltsrecht eines Familienangehörigen eines türkischen Arbeitnehmers

Ein verspäteter Antrag auf Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis führt nicht zum Verlust des einmal erworbenen Aufenthaltsrechtes
(C-329/97 vom 16.03.2000, Ergat)

Der Fall:

Der 1967 geborene, türkische Staatsangehörige Sezgin Ergat erhielt im Oktober 1975 die Genehmigung, nach Deutschland zu seinen Eltern zu ziehen, die dort beide als Arbeitnehmer beschäftigt waren. Seit 1983 besaß Herr Ergat in Deutschland befristete Arbeitserlaubnisse und war mit Unterbrechungen bei verschiedenen Arbeitgebern beschäftigt.
Im Dezember 1989 erhielt er eine unbefristete Arbeitserlaubnis.
Nach dem zur Zeit seiner Einreise nach Deutschland geltenden deutschen Recht benötigte Herr Ergat keine Aufenthaltserlaubnis. 1983 wurde ihm antragsgemäß eine Aufenthaltserlaubnis für ein Jahr erteilt. Diese wurde viermal, zunächst für ein Jahr und sodann jeweils für zwei Jahre, verlängert. Die letzten drei Verlängerungen wurden Herrn Ergat von der zuständigen Behörde gewährt, obwohl er seinen Antrag jeweils nach Ablauf der Aufenthaltserlaubnis gestellt hatte.
Herrn Ergats letzte Aufenthaltserlaubnis ist am 28. Juni 1991 abgelaufen. Daraufhin beantragte er mit einem Formular, das am 24. Juli 1991, also 26 Tage nach Ablauf der Geltungsdauer seiner letzten Aufenthaltserlaubnis, bei der zuständigen Ausländerbehörde einging, erneut die Verlängerung seiner Aufenthaltserlaubnis. Die Ausländerbehörde lehnte diesen Antrag als verspätet ab, forderte Herrn Ergat zur Ausreise auf und drohte, ihn abzuschieben, da sein Aufenthalt nach Ablauf der Geltungsdauer seiner Aufenthaltserlaubnis nicht mehr rechtmäßig sei. Herr Ergat machte dagegen geltend, dass er gemäß Artikel 7 Satz 1 zweiter Gedankenstrich des Beschlusses Nr. 1/80 über die Entwicklung der Assoziation zwischen der EWG und der Türkei einen Anspruch auf Verlängerung seiner Aufenthaltserlaubnis habe.

Artikel 7 Satz 1 zweiter Gedankenstrich des Beschlusses Nr. 1/80 bestimmt, dass die Familienangehörigen eines dem regulären Arbeitsmarkt eines Mitgliedstaats angehörenden türkischen Arbeitnehmers, die die Genehmigung erhalten haben, zu ihm zu ziehen, freien Zugang zu jeder von ihnen gewählten Beschäftigung im Lohn- oder Gehaltverhältnis haben, wenn sie dort seit mindestens fünf Jahren ihren ordnungsgemäßen Wohnsitz haben.

Laut Europäischem Gerichtshof fällt Herr Ergat unter die genannte Bestimmung des Beschlusses Nr. 1/80. Obwohl Herr Ergat zwischen 1985 und 1989 dreimal die Verlängerung seiner befristeten Aufenthaltserlaubnis jeweils erst nach Ablauf von deren Geltungsdauer beantragt hat, so dass er während kurzer Zeiträume nicht im Besitz einer gültigen Aufenthaltserlaubnis war, erfüllt er auch die Voraussetzung des mindestens fünfjährigen ordnungsgemäßen Wohnsitzes. Denn die zuständigen deutschen Behörden haben die Ordnungsmäßigkeit seines Aufenthalts trotz der späten Antragstellung nicht in Frage gestellt, sondern ihm vielmehr jedes Mal eine neue Aufenthaltserlaubnis erteilt. Somit hat Herr Ergat das Recht auf freien Zugang zu jeder von ihm gewählten Beschäftigung im Lohn- oder Gehaltverhältnis in Deutschland erworben. Die praktische Wirksamkeit dieses Rechts setzt zwangsläufig die Existenz eines entsprechenden Aufenthaltsrechts voraus, das ebenfalls auf dem Gemeinschaftsrecht beruht und vom Fortbestehen der Voraussetzungen für den Zugang zu diesen Rechten unabhängig ist.
Das durch den Beschluss Nr. 1/80 verliehene und garantierte Aufenthaltsrecht erlischt nicht, wenn sein Inhaber, nachdem er das Aufenthaltsrecht einmal erworben hat, eine zeitlang keine gültige Aufenthaltserlaubnis besessen hat.
Eine Aufenthaltserlaubnis hat nämlich rein deklaratorische Wirkung. Das heißt, dass sie lediglich das Bestehen eines Aufenthaltsrechts bestätigt, ein solches aber nicht begründet, was wiederum bedeutet, dass das Bestehen eines Aufenthaltsrechts nicht von dem Vorliegen einer Aufenthaltserlaubnis abhängig ist. Vielmehr ist der Anspruch auf Erteilung bzw. die Verlängerung einer Aufenthaltserlaubnis von dem Bestehen eines Aufenthaltsrechts abhängig.
Zwar können die Mitgliedstaaten von den in ihrem Gebiet anwesenden Ausländern verlangen, dass sie eine gültige Aufenthaltserlaubnis besitzen und, wenn diese nur befristet erteilt worden ist, rechtzeitig ihre Verlängerung beantragen, jedoch dürfen Verstöße gegen diese Obliegenheiten nicht mit unverhältnismäßigen Sanktionen, wie einer Ausweisung, bestraft werden.
Nach alledem hat Herr Ergat somit einen Anspruch auf Verlängerung seiner Aufenthaltserlaubnis.

Das Urteil:

Ein türkischer Staatsangehöriger, der die Genehmigung erhalten hat, im Rahmen der Familienzusammenführung mit einem dem regulären Arbeitsmarkt eines Mitgliedstaats angehörenden türkischen Arbeitnehmer in diesen Mitgliedstaat einzureisen, dort mehr als fünf Jahre einen ordnungsgemäßen Wohnsitz hatte und mit Unterbrechungen verschiedene ordnungsgemäße Beschäftigungen ausgeübt hat, verliert nicht die sich aus Artikel 7 Satz 1 zweiter Gedankenstrich des Beschlusses Nr. 1/80 vom 19. September 1980 über die Entwicklung der Assoziation, der von dem durch das Assoziierungsabkommen zwischen der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und der Türkei geschaffenen Assoziationsrat erlassen wurde, für ihn ergebenden Rechte, namentlich den Anspruch auf Verlängerung seiner Aufenthaltserlaubnis im Aufnahmemitgliedstaat, auch wenn deren Geltungsdauer zum Zeitpunkt der Stellung des Verlängerungsantrags abgelaufen war und dieser von den zuständigen nationalen Behörden abgelehnt worden ist.

Originaltext des Urteils:

Urteil des Europäischen Gerichtshofes in der Rechtssache C-329/97: Ergat