Einstufung von Bereitschaftsdiensten

Nachtwachen von Erziehern in Behindertenheimen sind vollumfänglich als Arbeitszeit zu berücksichtigen
(C-14/04 vom 01.12.2005, Dellas u. a.)

Der Fall:

Herr Abdelkader Dellas, ein spezialisierter Erzieher in Internaten für behinderte Jugendliche oder Erwachsene, wurde von seinem Arbeitgeber wegen Meinungsverschiedenheiten mit diesem entlassen, bei denen es insbesondere um den Begriff der tatsächlichen Arbeit und um die Vergütung für Nachtarbeitsstunden ging, die im Bereitschaftsraum geleistet wurden. Ein französisches Dekret betreffend die Nachtdienste von Arbeitnehmern bestimmter sozialer und medizinisch- sozialer Einrichtungen sah ein Gewichtungssystem für die Berechnung der Vergütung und der Überstunden vor, das dem Umstand Rechnung tragen sollte, dass diese Bereitschaftsdienste Zeiten der Inaktivität der Betroffenen umfassten. Zu diesem Zweck legte das Dekret zwischen den Anwesenheitszeiten und den tatsächlich angerechneten Arbeitszeiten ein Verhältnis von 3 zu 1 für die ersten neun Stunden und von 2 zu 1 für die folgenden Stunden fest. Die europäische Richtlinie über die Arbeitszeitgestaltung unterscheidet lediglich zwischen "Ruhezeit" und "Arbeitszeit", wobei die Einstufung als "Arbeitszeit" nicht von der Intensität der geleisteten Arbeit abhängt.

Laut Europäischem Gerichtshof steht das betreffende französische Dekret nicht mit der Richtlinie in Einklang, da sie die Stunden der Anwesenheit der betreffenden Arbeitnehmer nicht in vollem Umfang berücksichtigt.

Das Urteil:

Die Richtlinie 93/104/EG des Rates vom 23. November 1993 über bestimmte Aspekte der Arbeitszeitgestaltung ist dahin auszulegen, dass sie der Regelung eines Mitgliedstaats entgegensteht, die für Bereitschaftsdienst, den die Arbeitnehmer bestimmter sozialer und medizinisch-sozialer Einrichtungen in Form persönlicher Anwesenheit am Arbeitsort leisten, für die Zwecke der Berechnung der tatsächlichen Arbeitszeit eine Gleichwertigkeitsregelung wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehende vorsieht, wenn die Einhaltung der Gesamtheit der in dieser Richtlinie zum wirksamen Schutz der Sicherheit und der Gesundheit der Arbeitnehmer aufgestellten Mindestvorschriften nicht gewährleistet ist.

Falls das nationale Recht insbesondere für die wöchentliche Höchstarbeitszeit eine für die Arbeitnehmer günstigere Obergrenze festlegt, sind die für die Beachtung der in der Richtlinie vorgesehenen Schutzbestimmungen maßgeblichen Schwellenwerte oder Obergrenzen ausschließlich die in dieser Richtlinie festgelegten.

Die Pressemitteilung:

Urteil des Europäischen Gerichtshofes in der Rechtssache C-14/04: Abdelkader Dellas u. a. / Premier ministre u. a.

Pressemitteilung des Europäischen Gerichtshofes Nr. 104/05 vom 1. Dezember 2005

Der Gerichtshof bestätigt die Einstufung von Bereitschaftsdiensten als Arbeitszeit.

Die Nachtwache, die eine Erzieherin einer Einrichtung für Behinderte versieht, ist bei der Prüfung, ob die Schutzbestimmungen des Gemeinschaftsrechts für Arbeitnehmer- insbesondere, was die zulässige wöchentliche Höchstarbeitszeit angeht- eingehalten werden, in vollem Umfang zu berücksichtigen.

Die Richtlinie über die Arbeitszeitgestaltung1 enthält Mindestvorschriften für Sicherheit und Gesundheitsschutz in diesem Bereich. Sie gibt den Arbeitnehmern Anspruch auf tägliche und wöchentliche Mindestruhezeiten und angemessene Ruhepausen. Ferner setzt sie die wöchentliche Höchstarbeitszeit auf 48 Stunden einschließlich der Überstunden fest.

In diesem Zusammenhang unterscheidet die Richtlinie zwischen "Arbeitszeit" und "Ruhezeit". Sie sieht keine Zwischenkategorie vor, und die Einstufung als "Arbeitszeit" hängt nicht von der Intensität der geleisteten Arbeit ab. Dem gemäß hat der Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften entschieden, dass im Sinne der Richtlinie die Bereitschaftsdienste der Ärzte, des Pflegepersonals in Einrichtungen der notärztlichen Versorgung, der Rettungsassistenten und der Feuerwehrleute2, die am Arbeitsort geleistet werden, unabhängig davon in vollem Umfang als Arbeitszeit anzusehen sind, welche Arbeitsleistungen tatsächlich erbracht werden.

In Frankreich sieht ein Dekret für Nachtdienste von Arbeitnehmern bestimmter sozialer und medizinisch- sozialer Einrichtungen3 ein Gewichtungssystem für die Berechnung der Vergütung und der Überstunden vor, das dem Umstand Rechnung tragen soll, dass diese Bereitschaftsdienste Zeiten der Inaktivität der Betroffenen umfassen. Zu diesem Zweck legt das Dekret zwischen den Anwesenheitszeiten und den tatsächlich angerechneten Arbeitszeiten ein Verhältnis von 3 zu 1 für die ersten neun Stunden fest. Herr Dellas, ein spezialisierter Erzieher in Internaten für behinderte Jugendliche, wurde von seinem Arbeitgeber wegen Meinungsverschiedenheiten entlassen, bei denen es insbesondere um den Begriff der tatsächlichen Arbeit und um die Vergütung für Nacharbeitsstunden ging, die im Bereitschaftsraum geleistet wurden. Herr Dellas und mehrere Gewerkschaften erhoben beim französischen Conseil d`État Klagen auf Nichtigerklärung des betreffenden Dekrets. Der Conseil d`État möchte vom Gerichtshof wissen, ob eine derartige Regelung mit der Richtlinie vereinbar ist.

Der Gerichtshof stellt zunächst fest, dass die Richtlinie keine Anwendung auf die Vergütung der Arbeitnehmer findet.

Dagegen sind die fraglichen Anwesenheitsstunden bei der Prüfung, ob alle Mindestvorschriften, die die Richtlinie 93/104 für einen wirksamen Schutz der Sicherheit und Gesundheit der Arbeitnehmer aufstellt, eingehalten wurden, in vollem Umfang als Arbeitsstunden anzurechnen. Das in Rede stehende pauschale Gewichtungssystem berücksichtigt jedoch die Stunden der Anwesenheit der betreffenden Arbeitnehmer nur teilweise. So kann die Gesamtarbeitszeit eines Arbeitnehmers 60 Stunden pro Woche erreichen oder sogar übersteigen. Daher überschreitet eine solche nationale Regelung der Anrechnung der Bereitschaftsdienste die wöchentliche Höchstarbeitszeit, die von der Richtlinie auf 48 festgesetzt ist.
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1 Richtlinie 93/104/EG des Rates vom 23. November 1993 über bestimmte Aspekte der Arbeitszeitgestaltung (ABl. L 307, S. 18). Sie findet auf alle privaten oder öffentlichen Tätigkeitsbereiche mit Ausnahme des Straßen-, Luft-, See- und Schienenverkehrs, der Binnenschifffahrt, der Seefischerei, anderer Tätigkeiten auf See sowie der Tätigkeiten der Ärzte in der Ausbildung Anwendung.
2 Rechtssachen Simap (C-303/98), CIG (C-241/99), Jaeger (C-151/02), Pfeiffer (C-397/01 bis C-403/01) und Personalrat der Feuerwehr Hamburg (C-52/04).
3 U. a. Erzieher, Krankenpfleger und Pflegehelfer, die in Vollzeit in von gemeinnützigen Privaten geleiteten Heimen beschäftigt sind.

Originaltext des Urteils:

Urteil des Europäischen Gerichtshofes in der Rechtssache C-14/04: Dellas u. a.