Gewährung einer Rente bei Invalidität

Nationale Vorschrift, die für Begründung eines Anspruchs auf Invaliditätsrente einen Rahmenzeitraum festlegt, zulässig
(C-349/87 vom 04.10.1991, Paraschi)

Der Fall:

Die deutsche Regelung über die Gewährung von Berufs- oder Erwerbsunfähigkeitsrenten wurde durch die Einfügung zweier neuer Vorschriften in der Reichsversicherungsordnung (RVO) mit Wirkung vom 1. Januar 1984 geändert. Diese Änderung verschärfte die Voraussetzungen für die Gewährung von Invaliditätsrenten: Die Renten wegen Minderung der Erwerbsfähigkeit wurden ab dem 1. Januar 1984 nur noch dann gewährt, wenn der Versicherte eine versicherungspflichtige Tätigkeit ausgeübt hat und in den letzten 60 Kalendermonaten vor Eintritt des Versicherungsfalls (Rahmenzeitraum) mindestens 36 Monatsbeiträge entrichtet hat. Bei der Ermittlung dieses Zeitraums blieben einige abschließend aufgeführte nicht mitzuzählende Zeiten außer Betracht, so dass sich der 60-Monats-Zeitraum entsprechend verlängerte. Zu diesen nicht mitzuzählenden Zeiten gehörten die Ausfallzeiten u. a. wegen Krankheit oder Arbeitslosigkeit, wenn sie zu einem Bezug von Leistungen oder auch- unter bestimmten Voraussetzungen- wenn sie nicht zu einem Bezug von Leistungen geführt haben, sowie Zeiten der Arbeitsunfähigkeiten und Arbeitslosigkeit, sofern sie nicht bereits anderweitig zu berücksichtigen waren.
Die 1943 geborene, griechische Staatsangehörige Elissavet Paraschi war von 1965 bis 1979 mit einigen Unterbrechungen in Deutschland versicherungspflichtig beschäftigt. Sie entrichtete zur Rentenversicherung insgesamt 102 Monatsbeiträge nach deutschem Recht und fünf Monatsbeiträge nach griechischem Recht. 1977 erkrankte Frau Paraschi, 1979 verließ sie Deutschland, um nach Griechenland zurückzukehren, wo sie wegen der Verschlimmerung ihres Gesundheitszustandes keine Erwerbstätigkeit aufnehmen und wegen zu geringer Beitragszeiten im Rahmen der griechischen Rentenversicherung auch keine Invaliditätsrente erhalten konnte. Zwei 1978 und 1980 gestellte Anträge auf eine deutsche Invaliditätsrente wurden vom Rentenversicherungsträger mit der Begründung abgelehnt, Frau Paraschis Erwerbsfähigkeit sei nach deutschen Rechtsvorschriften nicht in dem Maße beeinträchtigt, dass sie als erwerbsunfähig anzusehen sei. Nach einer weiteren Verschlechterung ihres Gesundheitszustandes stellte Frau Paraschi am 16. Mai 1985 einen dritten Antrag auf eine deutsche Invaliditätsrente. Obwohl diesmal festgestellt wurde, dass Frau Paraschi aus gesundheitlichen Gründen wenigstens auf Zeit nicht mehr arbeiten könne, lehnte der Rentenversicherungsträger den Antrag mit der Begründung ab, dass Frau Paraschi die Voraussetzungen der zwischenzeitlich eingeführten vorerwähnten Vorschriften der RVO nicht erfülle. Daraufhin erhob Frau Paraschi Klage gegen die Entscheidung, mit der ihr Antrag abgelehnt worden war.

Laut Europäischem Gerichtshof ist es dem nationalen Gesetzgeber nach dem Gemeinschaftsrecht nicht untersagt, die Voraussetzungen für die Gewährung einer Invaliditätsrente zu verschärfen, sofern diese keine Diskriminierung von EG-Arbeitnehmern bewirken. Die Festlegung eines Rahmenzeitraums vor Eintritt des Versicherungsfalls, währenddessen der Versicherte eine Mindestzahl von Beiträgen erbracht haben muss, um Anspruch auf die Gewährung einer Invaliditätsrente zu haben, stellt als solche ein objektives Kriterium dar, das in gleicher Weise für alle EG-Arbeitnehmer gilt. Gleichwohl kann die deutsche Regelung dadurch, dass sie dann keine Verlängerungsmöglichkeit vorsieht, wenn Tatsachen oder Umstände, die verlängerungswirksamen Tatsachen und Umständen entsprechen, in einem anderen Mitgliedstaat eintreten, Wanderarbeitnehmer viel stärker benachteiligen, da sie dazu neigen, bei Krankheit oder Arbeitslosigkeit in ihr Heimatland zurückzukehren. Insofern liegt somit ein Verstoß gegen Gemeinschaftsrecht vor.

Das Urteil:

Die Artikel 48 Absatz 21 und 512 EWG-Vertrag sind dahin auszulegen, dass sie einer nationalen Regelung nicht entgegenstehen, die die Voraussetzungen für die Gewährung einer Invaliditätsrente insofern verschärft, als eine solche Rente künftig nur noch dann gewährt wird, wenn der Versicherte eine versicherungspflichtige Tätigkeit ausgeübt hat und in den letzten 60 Kalendermonaten vor Eintritt des Versicherungsfalles (Rahmenzeitraum) mindestens 36 Monatsbeiträge entrichtet hat. Die genannten Vertragsbestimmungen stehen einer derartigen Regelung, die unter bestimmten Voraussetzungen eine Verlängerung des Rahmenzeitraums gestattet, jedoch

dann entgegen, wenn sie keine Verlängerungsmöglichkeit für den Fall vorsieht, dass Tatsachen und Umstände, die den verlängerungswirksamen Tatsachen und Umständen entsprechen, in einem anderen Mitgliedstaat eintreten.
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1 Jetzt Artikel 39 EG.
2 Jetzt Artikel 42 EG.

Originaltext des Urteils:

Urteil des Europäischen Gerichtshofes in der Rechtssache C-349/87: Paraschi