Tragweite der Bescheinigung E 101 im Rahmen der Arbeitnehmerentsendung

Bindungswirkung bleibt bestehen, bis der Ausstellungsstaat die Bescheinigung zurückzieht oder für ungültig erklärt
(C-2/05 vom 26.01.2006, Herbosch Kiere)

Der Fall:

Zwischen April und September 1991 war die belgische Gesellschaft Herbosch Kiere NV (im Folgenden: HK) mit der Ausführung von Bauarbeiten auf zwei Baustellen in Belgien beauftragt. Zur Ausführung dieser Arbeiten nahm HK das irische Unternehmen ICDS Constructors Lud (im Folgenden: ICDS) in Anspruch. Für die betreffenden Baustellen wurden zwei Subunternehmerverträge abgeschlossen.
HK prüfte insbesondere, ob die in Belgien eingesetzten Beschäftigten von ICDS über eine gültige Entsendebescheinigung verfügten, die von den zuständigen irischen Behörde ausgestellt worden war, und ob die für diese Beschäftigten geschuldeten Sozialversicherungsbeiträge in Irland gezahlt worden waren. Es wurde festgestellt, dass bis auf eine Ausnahme alle betroffenen Arbeitnehmer eine Bescheinigung E 1011 besaßen.
Im Oktober 1992 errichtete die Kontrollbehörde auf dem Gebiet des Sozialrechts des belgischen Ministeriums für Beschäftigung und Arbeit ein Protokoll, in dem festgestellt wurde, dass HK die ihr von ICDS zur Verfügung gestellten irischen Arbeitnehmer verwendete, und dass deshalb nicht ICDS, sondern HK der wahre Arbeitgeber dieser Arbeitnehmer sei.
Angesichts der in diesem Protokoll getroffenen Feststellungen war die staatliche Anstalt für soziale Sicherheit der Auffassung, dass HK gegenüber den betroffenen Arbeitnehmern einen gewissen Teil der dem Arbeitgeber zustehenden Weisungsbefugnisse in der Weise ausübe, dass diese als mit einem Arbeitsvertrag an HK gebunden anzusehen seien. Folglich forderte der belgische Träger HK zur Zahlung der nach den Regelungen über die belgische Sozialversicherung zu leistenden Beiträge auf.

Laut Europäischem Gerichtshof hat , solange eine Bescheinigung E 101 nicht zurückgezogen oder für ungültig erklärt wird, der zuständige Träger des Mitgliedstaats, in den die Arbeitnehmer entsandt sind, dem Umstand Rechnung zu tragen, dass diese bereits dem Recht der sozialen Sicherheit des Staates unterliegen, in dem das Unternehmen, das sie beschäftigt, seine Betriebsstätte hat; er kann daher die fraglichen Arbeitnehmer nicht seinem eigenen System der sozialen Sicherheit unterstellen.
Allerdings muss der zuständige Träger des Mitgliedstaats, der diese Bescheinigung ausgestellt hat, deren Richtigkeit überprüfen und die Bescheinigung gegebenenfalls zurückziehen, wenn der zuständige Träger des Mitgliedstaats, in den die Arbeitnehmer entsandt sind, Zweifel an der Richtigkeit des der Bescheinigung zugrunde liegenden Sachverhalts und demnach der darin gemachten Angaben geltend macht.
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1 In dieser Bescheinigung erklärt der zuständige Träger des Mitgliedstaats, in dem das Zeitarbeitsunternehmen (ICDS) seine Betriebsstätte hat, dass sein eigenes System der sozialen Sicherheit auf die entsandten Arbeitnehmer während der Dauer der Entsendung anwendbar bleibt. Die Bescheinigung wird insbesondere auf der Grundlage ausgestellt, dass für die Dauer der Entsendung weiterhin eine arbeitsrechtliche Bindung zwischen den Arbeitnehmern und dem entsendenden Unternehmen (ICDS) besteht.

Das Urteil:

Solange eine gemäß Artikel 11 Absatz 1 Buchstabe a der Verordnung (EWG) Nr. 574/72 des Rates vom 21. März 1972 über die Durchführung der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 in der durch die Verordnung (EWG) Nr. 2001/83 des Rates vom 2. Juni 1983 geänderten und aktualisierten Fassung, wiederum geändert durch die Verordnung (EWG) Nr. 2195/91 des Rates vom 25. Juni 1991, ausgestellte Bescheinigung E 101 nicht von den Behörden des Ausstellungsstaats zurückgezogen oder für ungültig erklärt wird, bindet sie den zuständigen Träger und die Gerichte des Mitgliedstaats, in den die Arbeitnehmer entsandt worden sind. Folglich ist ein Gericht des Gaststaats dieser Arbeitnehmer nicht befugt, die Gültigkeit einer Bescheinigung E 101 im Hinblick auf die Bestätigung der Tatsachen, auf deren Grundlage eine solche Bescheinigung ausgestellt wurde, insbesondere das Bestehen einer arbeitsrechtlichen Bindung im Sinne von Artikel 14 Absatz 1 Buchstabe a der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 des Rates vom 14. Juni 1971 zur Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und Selbständige sowie deren Familienangehörige, die innerhalb der Gemeinschaft zu- und abwandern, in der durch die Verordnung Nr. 2001/83 geänderten und aktualisierten Fassung, wiederum geändert durch die Verordnung Nr. 2195/91, in Verbindung mit Punkt 1 des Beschlusses Nr. 128 der Verwaltungskommission für die soziale Sicherheit der Wanderarbeitnehmer vom 17. Oktober 1985 zur Durchführung des Artikels 14 Absatz 1 Buchstabe a und des Artikels 14b Absatz 1 der Verordnung Nr. 1408/71 zwischen dem Unternehmen mit Sitz in einem Mitgliedstaat und den von ihm in das Gebiet eines anderen Mitgliedstaat entsandten Arbeitnehmern während der Dauer der Entsendung dieser Arbeitnehmer zu überprüfen.

Originaltext des Urteils:

Urteil des Europäischen Gerichtshofes in der Rechtssache C-2/05: Herbosch Kiere