Aufenthaltsrecht für Drittstaatsangehörige, die mit einem Unionsbürger verheiratet sind

Kein Anspruch bei Scheinehe
(C - 109/01 vom 23.09.2002, Akrich)

Der Fall:

Nachdem der marokkanische Staatsbürger Hacene Akrich mehrfach vergeblich versucht hatte, eine Aufenthaltserlaubnis für das Vereinigte Königreich zu erlangen, reiste er 1992 heimlich dort ein. Während seines unerlaubten Aufenthalts heiratete er 1996 eine britische Staatsangehörige und beantragte eine Aufenthaltsgenehmigung als deren Ehegatte.
Im August 1997 wurde Herr Akrich, seinem Wunsch entsprechend nach Irland abgeschoben, wo seine Ehefrau seit Juni 1997 wohnte und arbeitete. Als Frau Akrich für August 1998 eine Beschäftigung im Vereinigten Königreich angeboten wurde, beantragte Herr Akrich im Februar 1998 eine Bescheinigung zur Einreise als Ehegatte einer im Vereinigten Königreich wohnhaften Person. Er berief sich auf die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes, wonach Angehörige von Mitgliedstaaten, die von ihrem Recht auf Freizügigkeit Gebrauch gemacht haben, sich bei der Rückkehr in ihr Heimatland vom Ehegatten, unabhängig von dessen Staatsangehörigkeit, begleiten lassen können. Der Antrag des Herrn Akrich wurde abgelehnt, weil man den Verdacht hegte, dass der Irlandaufenthalt der Akrichs nur zu dem Zweck erfolgt sei, Herrn Akrich ein Aufenthaltsrecht für das Vereinigte Königreich zu verschaffen.

Laut Europäischem Gerichtshof sind die Absichten, die ein Ehepaar zu der Niederlassung und Arbeitsaufnahme in einem anderen Mitgliedstaat bewegt, für die Beurteilung der Rechtslage, in der sich das Ehepaar bei der Rückkehr in den Herkunftsmitgliedstaat eines der Ehegatten befindet, unerheblich, solange keine Scheinehe vorliegt. Ausschlaggebend für die Erteilung des Aufenthaltsrechts ist, dass sich der mit einem Unionsbürger verheiratete Drittstaatsangehörige zuvor rechtmäßig in einem anderen Mitgliedstaat aufgehalten hat.

Das Urteil:

1. In einer Situation wie der des Ausgangsverfahrens stehen die Rechte aus Artikel 10 der Verordnung Nr. 1612/68 des Rates vom 15. Oktober 1968 über die Freizügigkeit der Arbeitnehmer innerhalb der Gemeinschaft dem mit einem Unionsbürger verheirateten Drittstaatsangehörigen nur dann zu, wenn er sich in dem Zeitpunkt rechtmäßig in einem Mitgliedstaat aufhält, in dem er in einen anderen Mitgliedstaat zieht, in den der Unionsbürger abwandert oder abgewandert ist.

2. Artikel 10 der Verordnung Nr. 1612/68 findet keine Anwendung, wenn der Angehörige eines Mitgliedstaats und der Drittstaatsangehörige eine Scheinehe zur Umgehung der für Drittstaatsangehörige geltenden Einreise- und Aufenthaltsbestimmungen geschlossen haben.

3. Besteht zwischen einem Angehörigen eines Mitgliedstaats und einem Drittstaatsangehörigen eine Ehe, die keine Scheinehe ist, so ist der Umstand, dass sich die Ehegatten in einem anderen Mitgliedstaat niedergelassen haben, um bei ihrer Rückkehr in den Mitgliedstaat, dem der erstgenannte Ehegatte angehört, in den Genuss der vom Gemeinschaftsrecht verliehenen Rechte zu kommen, für die Beurteilung ihrer Rechtslage durch die zuständigen Stellen des letztgenannten Staates unerheblich.

4. Stehen zu dem Zeitpunkt, zu dem ein Angehöriger eines ersten Mitgliedstaats, der mit einem Drittstaatsangehörigen verheiratet ist und mit ihm in einem zweiten Mitgliedstaat lebt, in den Mitgliedstaat, dem er angehört, zurückkehrt, um dort eine unselbständige Berufstätigkeit auszuüben, seinem Ehegatten keine Rechte nach Artikel 10 der Verordnung Nr. 1612/68 zu, weil sich der Ehegatte nicht rechtmäßig im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats aufgehalten hat, so müssen die zuständigen Stellen des ersten Mitgliedstaats gleichwohl bei der Prüfung des Antrags des Ehegatten, in das Hoheitsgebiet dieses Staates einzureisen und sich dort aufzuhalten, das Recht auf Achtung des Familienlebens im Sinne des Artikels 8 der am 4. November 1950 in Rom unterzeichneten Europäischen Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten berücksichtigen, wenn die Ehe keine Scheinehe ist.

Die Pressemitteilung:

Urteil des Europäischen Gerichtshofes in der Rechtssache C-109/01: Secretary of State for the Home Department / Hacene Akrich

Pressemitteilung des Europäischen Gerichtshofes Nr. 76/03 vom 23. September 2003

Ein mit einem Bürger der Europäischen Union verheirateter Drittstaatsangehöriger hat, sofern er sich rechtmäßig in einem anderen Mitgliedstaat aufgehalten hat, ein Recht auf Aufenthalt im Herkunftsstaat des Unionsbürgers, wenn dieser, nachdem er von seinem Recht auf Freizügigkeit Gebrauch gemacht hat, mit ihm zusammen dorthin zurückkehrt, um dort zu arbeiten.

Die Absichten, die ein Ehepaar dazu veranlassen, in einen anderen Mitgliedstaat zu ziehen, sind auch dann unbeachtlich, wenn mit diesem Umzug - im Hinblick auf die Rückkehr in den ersten Mitgliedstaat, in dem der Ehegatte in dem Zeitpunkt, in dem sich das Ehepaar in einem anderen Mitgliedstaat niedergelassen hat, kein Aufenthaltsrecht besaß - ein Aufenthaltsrecht über das Gemeinschaftsrecht begründet werden soll.

Seit 1989 versuchte Hacene Akrich, ein marokkanischer Staatsangehöriger, mehrfach, in das Vereinigte Königreich einzureisen und dort Wohnsitz zu nehmen. Seine Anträge auf Aufenthaltsgenehmigung wurden stets zurückgewiesen. 1992 kehrte er nach weniger als einem Monat nach seiner zweiten Ausweisung heimlich in das Vereinigte Königreich zurück. Während er sich dort unerlaubt aufhielt, heiratete er 1996 eine britische Staatsbürgerin und beantragte eine Aufenthaltsgenehmigung als ihr Ehegatte. Im August 1997 wurde er nach Dublin abgeschoben, wo seine Frau seit Juni 1997 wohnte und von August 1997 bis Juni 1998 einer unselbständigen Beschäftigung nachging. Ihr wurde eine Beschäftigung im Vereinigten Königreich ab August 1998 angeboten.

Anfang 1998 beantragte Herr Akrich bei den britischen Behörden eine Bescheinigung zur Einreise als Ehegatte einer im Vereinigten Königreich wohnhaften Person. Er stützte sich auf das Urteil des Gerichtshofes der EG im Fall Singh1. Der Gerichtshof hatte dort entschieden, dass ein Angehöriger eines Mitgliedstaats, der in einem anderen Mitgliedstaat eine unselbständige Berufstätigkeit im Sinne des Gemeinschaftsrechts ausgeübt hat, bei seiner Rückkehr in seineigenes Land die Möglichkeit hat, sich von seinem Ehegatten unabhängig von dessen Staatsangehörigkeit begleiten zu lassen. Der Ehegatte besitzt nach dem Gemeinschaftsrecht einen Anspruch auf Einreise und Aufenthalt, den er gegenüber dem Mitgliedstaat, dessen Staatsangehörigkeit der Arbeitnehmer besitzt, unmittelbar geltend machen kann.

Anlässlich ihres Antrags wurden Herr und Frau Akrich durch die Botschaft des Vereinigten Königreichs in Dublin angehört. Es ergab sich, dass sie die Absicht gehabt hatten, in das Vereinigte Königreich zurückzukehren, nachdem sie .von gemeinschaftsrechtlichen Rechten gehört hatten, wonach man nach einem Verbleib von sechs Monaten in das Vereinigte Königreich zurückkehren kann".

Der Antrag wurde vom Secretary of State for the Home Department abgelehnt. Er war der Ansicht, dass der Wegzug nach Irland nur zu einer vorübergehenden Abwesenheit geführt habe und in der Absicht erfolgt sei, Herrn Akrich ein Aufenthaltsrecht zu verschaffen und die Rechtsvorschriften des Vereinigten Königreichs zu umgehen. Herr Akrich erhob Klage gegen diesen ablehnenden Bescheid.

Das schließlich mit der Sache befasste Immigration Appeal Tribunal hat dem Gerichtshof der EG die Frage vorgelegt, ob der Herkunftsmitgliedstaat dem Ehegatten, der Angehöriger eines Drittstaats ist, unter diesen Umständen das Recht auf Einreise verweigern und die Absicht des Ehepaars, bei ihrer Rückkehr in den Herkunftsmitgliedstaat gemeinschaftsrechtliche Rechte geltend zu machen, berücksichtigen darf.

Der Gerichtshof verweist auf sein Urteil Singh, nach dem das Gemeinschaftsrecht einen Mitgliedstaat verpflichtet, die Einreise in sein Hoheitsgebiet und den Aufenthalt dort dem Ehegatten eines Angehörigen dieses Staates zu gestatten, der sich mit besagtem Ehegatten in einen anderen Mitgliedstaat begeben hat, um dort eine unselbständige Berufstätigkeit auszuüben, und zurückkehrt, um sich in dem Staat, dem er angehört, niederzulassen. Der Gerichtshof weist jedoch darauf hin, dass das Gemeinschaftsrecht, nämlich die Verordnung Nr. 1612/68 des Rates über die Freizügigkeit der Arbeitnehmer, nur die Freizügigkeit innerhalb der Gemeinschaft betrifft und nichts über das Bestehen von Rechten von einem mit einem Unionsbürger verheirateten Drittstaatsangehörigen im Hinblick auf den Zugang zum Gemeinschaftsgebiet sagt.

Um in den Genuss des Rechts zu kommen, bei dem Unionsbürger Wohnung zu nehmen, muss sich ein solcher Ehegatte nach Ansicht des Gerichtshofes rechtmäßig in einem Mitgliedstaat aufhalten, wenn er sich in einen anderen Mitgliedstaat begibt, in den der Unionsbürger abwandert.

Der Gerichtshof weist darauf hin, dass Gleiches gilt, wenn der mit einem Drittstaatsangehörigen verheiratete Unionsbürger in den Mitgliedstaat, dem er angehört, zurückkehrt, um dort eine unselbständige Berufstätigkeit auszuüben.
Was die Frage des Missbrauchs anbelangt, führt der Gerichtshof aus, dass die Absichten des Bürgers, der in einem Mitgliedstaat Arbeit suchen möchte, für die Beurteilung der Rechtslage, in der sich das Ehepaar bei der Rückkehr in den Herkunftsmitgliedstaat befindet, unerheblich sind. Ein solches Verhalten könne selbst dann keinen Missbrauch darstellen, wenn der Ehegatte in dem Zeitpunkt, in dem sich das Ehepaar in einem anderen Mitgliedstaat niedergelassen habe, im Herkunftsstaat kein Aufenthaltsrecht gehabt habe. Ein Missbrauch läge vor, wenn die gemeinschafsrechtlichen Rechte im Rahmen von Scheinehen geltend gemacht würden, die zur Umgehung der nationalen Zuwanderungsbestimmungen geschlossen würden.

Der Gerichtshof führt sodann auf der Grundlage dieser Erwägungen aus, dass, wenn eine Ehe keine Scheinehe ist, in dem Zeitpunkt, in dem ein mit einem Drittstaatsangehörigen verheirateter Angehöriger eines Mitgliedstaats in seinen Herkunftsstaat zurückkehrt, in dem seinem Ehegatten keine gemeinschafsrechtlichen Rechte zustehen, weil er sich nicht rechtmäßig in einem anderen Mitgliedstaat aufgehalten hat, die Behörden des Herkunftsstaats dennoch das Recht auf Achtung des Familienlebens im Sinne des Artikels 8 der Europäischen Menschenrechtskonvention berücksichtigen müssen.

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1 Urteil vom 7. Juli 1992 in der Rechtssache C-370/90

Originaltext des Urteils:

Urteil des Europäischen Gerichtshofes in der Rechtssache C-109/01:
Secretary of State for the Home Department / Hacene Akrich