Verhältnis zwischen Schengener Abkommen und Freizügigkeit

Schengener Abkommen nur soweit anwendbar, wie es mit der Freizügigkeit vereinbar ist
(C-503/03 vom 31.01.2006, Kommission/ Königreich Spanien)

Der Fall:

Ein Ehegatte, der Drittstaatsangehöriger ist, und mit einem Unionsbürger verheiratet ist, gelangt bei einem Umzug des Unionsbürgers innerhalb der EU in den Genuss der Freizügigkeit. Die Mitgliedstaaten dürfen Unionsbürgern und ihren Ehegatten lediglich dann die Einreise verweigern, wenn dies aus Gründen der öffentlichen Sicherheit oder Ordnung geboten ist. Durch das Schengener Abkommen und sein Durchführungsprotokoll (SDÜ) wurden die Binnengrenzen zwischen den Vertragsstaaten abgeschafft und eine gemeinsame Außengrenze geschaffen. Im Rahmen des SDÜ ist u.a. ein Informationssystem (SIS) eingeführt worden, damit die nationalen Behörden Daten in Bezug auf die Identität von Personen und die Beschreibung gesuchter Sachen austauschen können. Nach dem SDÜ ist für die Beurteilung der Frage, ob Umstände vorliegen, die die Aufnahme der Ausschreibung eines Drittländers in das SIS rechtfertigen, der ausschreibende Staat zuständig, der für die von ihm in das SIS eingegebenen Daten verantwortlich ist und diese Daten allein ergänzen, berichtigen oder löschen darf. Die anderen Vertragsstaaten sind verpflichtet, einem zur Einreiseverweigerung ausgeschriebenen Drittausländer die Einreise zu verweigern.
Herr Fahrid, der algerischer Staatsbürger ist, war mit einer spanischen Staatsbürgerin verheiratet und wohnte in Irland. Bei seiner Ankunft auf dem Flughafen in Barcelona im Februar 1999 mit einem Flug aus Algerien wurde ihm die Einreise in den Schengen- Raum verweigert. Dies wurde damit begründet, dass er aufgrund einer Erklärung der Bundesrepublik Deutschland im SIS zur Einreiseverweigerung ausgeschrieben sei.
Herrn Bouchair, ebenfalls algerischer Staatsbürger, der wie Herr Fahrid mit einer spanischen Staatsbürgerin verheiratet war und in London wohnte, wurde aus den gleichen Gründen die Einreise in den Schengen- Raum verweigert.

Laut Europäischem Gerichtshof sind die Bestimmungen des Schengener Abkommens und seines Durchführungsprotokolls nur in dem Maße anwendbar, als dass sie mit der gemeinschaftsrechtlich garantierten Freizügigkeit vereinbar sind. Demnach darf einem Drittstaatsangehörigen, der mit einem Unionsbürger verheiratet ist, die Einreise nur dann verweigert werden, wenn eine tatsächliche und hinreichend schwere Gefährdung vorliegt, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt. Somit muss ein Vertragsstaat des Schengener Abkommens, der einem im SIS ausgeschriebenem Drittstaatsanghörigen die Einreise verweigern will, vorher prüfen, ob seine Anwesenheit eine tatsächliche und hinreichend schwere Gefährdung für den Vertragsstaat darstellt.

Das Urteil:

Das Königreich Spanien hat dadurch gegen seine Verpflichtungen aus den Artikeln 1 bis 3 der Richtlinie 64/221/EWG des Rates vom 25. Februar 1964 zur Koordinierung der Sondervorschriften für die Einreise und den Aufenthalt von Ausländern, soweit sie aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit oder Gesundheit gerechtfertigt sind, verstoßen, dass es Herrn Farid die Einreise in das Hoheitsgebiet der Vertragsstaaten des am 14. Juni 1985 in Schengen unterzeichneten Übereinkommens betreffend den schrittweisen Abbau der Kontrollen an den gemeinsamen Grenzen sowie Herrn Farid und Herrn Bouchair, Drittstaatsangehörigen, die mit Staatsangehörigen eines Mitgliedstaats verheiratet sind, die Erteilung eines Sichtvermerks zur Einreise in den Schengen-Raum allein aus dem Grund verweigert hat, dass sie im Schengener Informationssystem zur Einreiseverweigerung ausgeschrieben waren, ohne dass es vorher geprüft hat, ob die Anwesenheit dieser Personen eine tatsächliche, gegenwärtige und hinreichend schwere Gefährdung eines Grundinteresses der Gesellschaft darstellte.

Die Pressemitteilung:

Urteil des Europäischen Gerichtshofes in der Rechtssache C-503/03: Kommission der Europäischen Gemeinschaften / Königreich Spanien

Pressemitteilung des Europäischen Gerichtshofes vom 31. Januar 2006 Nr. 07/06

Der Gerichtshof präzisiert erstmals die Beziehungen zwischen dem Übereinkommen zur Durchführung des Schengener Übereinkommens und der Freizügigkeit.

Im Fall der im Schengener Informationssystem zur Einreiseverweigerung ausgeschriebenen Drittstaatsangehörigen, die mit Staatsangehörigen eines Mitgliedstaats verheiratet sind, muss ein Mitgliedstaat, bevor er diesen Personen die Einreise in den Schengen-Raum verweigert prüfen, ob ihre Anwesenheit eine tatsächliche, gegenwärtige und hinreichend schwere Gefährdung für ein Grundinteresse der Gesellschaft darstellt.

Wenn ein Staatsangehöriger eines Mitgliedstaats innerhalb der Gemeinschaft umzieht, um die ihm durch den EG-Vertrag verliehenen Rechte auszuüben, gelangt sein Ehegatte, der Staatsangehöriger eines Drittstaats ist, weitgehend in den Genuss der Verordnungen und Richtlinien über die Freizügigkeit. Zwar können die Mitgliedstaaten von einem solchen Ehegatten ein Einreisevisum verlangen, doch haben sie ihm auch alle Erleichterungen für die Erlangung des Sichtvermerks zu gewähren. Eine Richtlinie von 19641 erlaubt den Mitgliedstaaten außerdem, Staatsangehörigen der anderen Mitgliedstaaten oder ihren Ehegatten, die einem Drittstaat angehören, die Einreise in ihr Hoheitsgebiet aus Gründen der öffentlichen Ordnung oder der öffentlichen Sicherheit zu verbieten.

Der Vertrag von Amsterdam2 hat das Schengener Übereinkommen und dessen Durchführungsübereinkommen (SDÜ) durch ein Protokoll in den Rahmen der Europäischen Union einbezogen3. Das SDÜ hat die Abschaffung der Kontrollen an den Binnengrenzen zwischen den Vertragsstaaten und die Schaffung einer einheitlichen Außengrenze ermöglicht. Gemeinsame Vorschriften auf dem Gebiet der Sichtvermerke, des Asylrechts und der Kontrolle an den Außengrenzen sind erlassen worden, um die Freizügigkeit innerhalb der Unterzeichnungsstaaten ohne Störung der öffentlichen Ordnung zu ermöglichen. Außerdem ist ein Informationssystem (SIS) eingeführt worden, damit die nationalen Behörden Daten in Bezug auf die Identität von Personen und die Beschreibung gesuchter Sachen austauschen können.

Nach dem SDÜ ist für die Beurteilung der Frage, ob Umstände vorliegen, die die Aufnahme der Ausschreibung eines Drittländers in das SIS rechtfertigen, der ausschreibende Staat zuständig, der für die von ihm in das SIS eingegebenen Daten verantwortlich ist und diese Daten allein ergänzen, berichtigen oder löschen darf. Die anderen Vertragstaaten sind verpflichtet, einem zur Einreiseverweigerung ausgeschriebenen Drittausländer die Einreise und die Erteilung eines Sichtvermerks zu verweigern.

Die Europäische Kommission hat nach Beschwerden von Herrn Farid und Herrn Bouchair, zwei algerischen Staatsangehörigen, die mit spanischen Staatsangehörigen verheiratet sind und in Dublin bzw. London wohnen, eine Klage gegen Spanien beim Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften erhoben. Die spanischen Behörden hatten den beiden algerischen Staatsangehörigen die Einreise in den Schengen-Raum allein aus dem Grund verweigert, weil sie von Deutschland in die SIS-Liste der nicht zugelassenen Personen aufgenommen worden waren.

Der Gerichtshof präzisiert zunächst das Verhältnis zwischen dem SDÜ und dem Gemeinschaftsrecht auf dem Gebiet der Freizügigkeit.

Er weist darauf hin, dass das Schengen-Protokoll bekräftigt, dass die Bestimmungen des Schengen-Besitzsstands nur in dem Maße anwendbar sind, in dem sie mit den Rechtsvorschriften der Union und der Gemeinschaft vereinbar sind. Die verstärkte Zusammenarbeit im Schengen-Bereich hat innerhalb des institutionellen und rechtlichen Rahmens der Union und unter Beachtung der Verträge zu erfolgen.

Daraus folgt, dass die Konformität einer Verwaltungspraxis mit den Bestimmungen des SDÜ das Verhalten der zuständigen nationalen Behörden nur rechtfertigen kann, soweit die Anwendung der fraglichen Bestimmungen mit den Gemeinschaftsvorschriften über die Freizügigkeit vereinbar ist.

Sodann stellt der Gerichtshof fest, dass der Begriff öffentliche Ordnung im Sinne der Richtlinie 1964 nicht dem des SDÜ entspricht.

Denn nach der Richtlinie darf bei Maßnahmen der öffentlichen Ordnung oder Sicherheit ausschließlich das persönliche Verhalten der betreffenden Person ausschlaggebend sein, so dass allein das Vorhandensein einer strafrechtlichen Verurteilung diese Maßnahmen nicht ohne weiteres begründen können. Der Gerichtshof hat stets hervorgehoben, dass die Ausnahme der öffentlichen Ordnung eine Abweichung vom grundlegenden Prinzip der Freizügigkeit darstellt, die eng auszulegen ist: Der Rückgriff einer nationalen Behörde auf den Begriff der öffentlichen Ordnung muss voraussetzen, dass eine tatsächliche und hinreichend schwere Gefährdung vorliegt, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt.

Dagegen können Umstände wie eine Freiheitsstrafe von mindestens einem Jahr oder eine Maßnahme, die auf der Nichtbeachtung des nationalen Rechts über die Einreise und den Aufenthalt von Ausländern beruht, eine Ausschreibung zur Einreiseverweigerung im SIS aus Gründung der öffentlichen Ordnung rechtfertigen, und zwar unabhängig von jeder konkreten Beurteilung der Gefahr, die der Betroffene darstellt. Einem Drittländer, der zur Einreiseverweigerung ausgeschrieben ist, darf grundsätzlich weder die Einreise in den Schengen-Raum gestattet noch ein Sichtvermerk zu diesem Zweck erteilt werden.

Der Gerichtshof stellt daher fest, dass der Drittstaatsangehörige, der mit einem Staatsangehörigen eines Mitgliedstaats verheiratet ist, Gefahr läuft, im Fall einer Ausschreibung zur Einreiseverweigerung den in der Richtlinie von 1964 vorgesehenen Schutz einzubüßen. Er weist darauf hin, dass sich die Vertragsstaaten in einer Erklärung von 1996 verpflichtet haben, gemeinschaftsrechtlich begünstigte Personen nur dann zur Einreiseverweigerung auszuschreiben, wenn die gemeinschaftsrechtlichen Voraussetzungen erfüllt sind. Das bedeutet, dass ein Vertragsstaat die Ausschreibung einer solchen Person erst dann vornehmen kann, wenn er festgestellt hat, dass ihre Anwesenheit im Sinne der Richtlinie eine tatsächliche, gegenwärtige und hinreichend schwere Gefährdung darstellt, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt.

Außerdem muss der das SIS konsultierende Mitgliedstaat vor einer Einreiseverweigerung feststellen können, dass die Anwesenheit des Betroffenen im Schengen-Raum eine solche Gefährdung darstellt. Der Gerichtshof weist insoweit darauf hin, dass das Schengener System über Mittel und Wege verfügt, die es ermöglichen, Informationsersuchen der nationalen Behörden, die bei der Durchführung einer Ausschreibung auf ein Problem stoßen, zu beantworten.

Demzufolge verurteilt der Gerichtshof Spanien, weil die spanischen Behörden Herrn Farid und Herrn Bouchair die Einreise verweigert haben, ohne vorher geprüft zu haben, ob ihre Anwesenheit eine tatsächliche, gegenwärtige und hinreichend schwere Gefährdung darstellte, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt.
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1 Richtlinie 64/221/EWG des Rates vom 25. Februar 1964 zur Koordinierung der Sondervorschriften für die Einreise und den Aufenthalt von Ausländern, soweit sie aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit oder Gesundheit gerechtfertigt sind (ABl. 1964, Nr. 56, S. 850). Diese Richtlinie wurde aufgehoben durch die Richtlinie 2004/38/EG vom 29. April 2004 über das Recht der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten (ABl. L 158 vom 30.04.2004). Die Frist für die Umsetzung in die nationale Rechtsordnung läuft am 30. April 2006 ab.
2 1997 unterzeichnet und in Kraft seit 1999.
3 1985 wurde das erste Übereinkommen unterzeichnet; das SDÜ wurde 1990 unterzeichnet und trat 1995 in Kraft. Der Schengen-Raum hat sich nach und nach erweitert, sogar auf Drittstaaten. Belgien, Dänemark, Deutschland, Griechenland, Spanien, Frankreich, Italien, Luxemburg, die Niederlande, Österreich, Portugal, Finnland, Schweden, Norwegen und Island gehören zu diesem Raum. Die Europäische Union, die Europäische Gemeinschaft und die Schweizerischen Eidgenossenschaften haben am 26. Oktober 2004 ein Abkommen über die Assoziierung der Schweizerischen Eidgenossenschaft bei der Umsetzung, Anwendung und Entwicklung des Schengen-Besitzstands unterzeichnet.

Originaltext des Urteils:

Urteil des Europäischen Gerichtshofes in der Rechtssache C-503/03: Kommission/ Königreich Spanien