Im anderen Mitgliedstaat durchgeführte Heilbehandlungen

Krankenhausleistungen in anderen Mitgliedstaaten dürfen von vorheriger Genehmigung abhängig gemacht werden
(C-385/99 vom 13.05.2003, Müller-Fauré)

Der Fall:

Frau Müller- Fauré, die sich 1994 im Urlaub in Deutschland aufhielt, ließ sich dort von einem Zahnarzt behandeln, ohne vorher eine Genehmigung ihrer Krankenkasse eingeholt zu haben. Zurück in den Niederlanden verlangte sie von ihrer Krankenkasse die Erstattung der angefallenen Behandlungskosten. Frau van Riet forderte von ihrer niederländischen Krankenkasse die Erstattung von Kosten für eine Anthroskopie und eine Ulnaresektion, die bei einer Behandlung in Belgien im Mai 1993 angefallen waren. Auch Frau van Riet hatte den Eingriff ohne vorherige Genehmigung ihrer Krankenkasse durchführen lassen. Diese Eingriffe erfolgten in viel kürzerer Zeit, als es in den Niederlanden möglich gewesen wäre; sie fanden teilweise im Krankenhaus und teilweise außerhalb dessen statt.
Nach dem niederländischen System der Krankenversicherung erfolgt die Versorgung der Versicherten durch Sachleistungen: Ärzte oder Krankenhäuser, die mit den Krankenkassen eine vertragliche Vereinbarung getroffen haben, versorgen die Versicherten kostenlos. Versicherte, die sich in den Niederlanden oder im Ausland bei nicht vertraglich gebundenen Ärzten oder Einrichtungen behandeln lassen möchten, benötigen eine vorherige Genehmigung. Abhängig ist diese Genehmigung davon, dass die Versorgung notwendig ist und nicht rechtzeitig durch einen vertraglich gebundenen Arzt im Inland geschehen kann.
In beiden obengenannten Fällen lehnte die Krankenkasse die Übernahme der Kosten mit der Begründung ab, dass die betreffenden Behandlungen auch binnen einer angemessenen Zeit innerhalb der Niederlande hätten stattfinden können.

Laut Europäischem Gerichtshof stellt das niederländische System der Krankenversicherung, das eine medizinische Behandlung in einem anderen Mitgliedstaat von einer vorherigen Genehmigung der Krankenkasse abhängig macht, eine Behinderung des freien Dienstleistungsverkehrs dar, da sie Versicherte davon abhalten könne, sich in einem anderen Staat als dem Versicherungsstaat medizinisch behandeln zu lassen. Jedoch sei das Erfordernis einer vorherigen Genehmigung im Fall einer Krankenhausversorgung in einem anderen Mitgliedstaat gerechtfertigt, da es gewährleiste, dass ein ausgewogenes Angebot qualitativ hochwertiger Krankenhausversorgung ständig in ausreichendem Maß zugänglich sei, sowie dazu beitrage, die Kosten zu beherrschen und jede Verschwendung finanzieller, technischer und menschlicher Ressourcen zu verhindern. Hingegen sei es nicht gerechtfertigt, die Versorgung außerhalb eines Krankenhauses in einem anderen Mitgliedstaat von einer vorherigen Genehmigung abhängig zu machen.

Das Urteil:

- Artikel 59 EG-Vertrag (nach Änderung jetzt Artikel 49 EG) und Artikel 60 EG-Vertrag (jetzt Artikel 50 EG) sind dahin auszulegen, dass sie Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats nicht entgegenstehen, die wie die in den Ausgangsverfahren in Rede stehenden die Übernahme der Kosten für eine Krankenhausversorgung in einem anderen Mitgliedstaat als dem der Niederlassung der Krankenkasse des Versicherten durch einen Leistungserbringer, mit dem diese Kasse keine vertragliche Vereinbarung getroffen hat, davon abhängig machen, dass die Kasse vorher ihre Genehmigung erteilt, und nach denen diese Genehmigung nur erteilt wird, wenn die medizinische Behandlung des Versicherten es erfordert. Die Genehmigung kann jedoch nur dann aus diesem Grund versagt werden, wenn die gleiche oder eine für den Patienten ebenso wirksame Behandlung rechtzeitig in einer Einrichtung erlangt werden kann, die eine vertragliche Vereinbarung mit der betreffenden Kasse getroffen hat.

- Dagegen stehen die Artikel 59 und 60 des Vertrages diesen Rechtsvorschriften entgegen, wenn sie die Übernahme der Kosten für eine Versorgung, die in einem anderen Mitgliedstaat außerhalb eines Krankenhauses durch eine Person oder Einrichtung erfolgt, mit der die Krankenkasse des Versicherten keine vertragliche Vereinbarung getroffen hat, davon abhängig machen, dass die betreffende Kasse vorher ihre Genehmigung erteilt, auch wenn die fraglichen nationalen Rechtsvorschriften ein Sachleistungssystem einführen, in dessen Rahmen die Versicherten Anspruch nicht auf die Erstattung der Kosten für die medizinische Versorgung, sondern auf die Versorgung selbst haben, die kostenlos erfolgt.

Die Pressemitteilung:

Urteil des Europäischen Gerichtshofes in der Rechtssache C-385/99:
Müller-Fauré / Onderlinge Waarborgmaatschappij OZ Zorgverzekeringen und van Riet / Onderlinge Waarborgmaatschappij ZAO Zorgverzekeringen

Pressemitteilung des Europäischen Gerichtshofes vom 13. Mai 2003 Nr. 36/03

Der Grundsatz des freien Dienstleistungsverkehrs steht der niederländischen Regelung entgegen, wonach bei einer Versorgung außerhalb eines Krankhauses, die in einem anderen Mitgliedstaat durch einen Leistungserbringer erfolgt, mit dem die Krankenkasse des Versicherten keine vertragliche Vereinbarung getroffen hat, eine vorherige Genehmigung erforderlich ist.

Dagegen ist bei einer Krankenhausversorgung das Erfordernis einer vorherigen Genehmigung gerechtfertigt.

Das niederländische Krankenversicherungssystem sieht die Gewährung von Sachleistungen vor: Die Versorgung der Versicherten erfolgt kostenlos durch Leistungserbringer (Ärzte oder Krankenhäuser), die mit den Krankenkassen eine vertragliche Vereinbarung getroffen haben. Ein Anspruch der Patienten auf medizinische Versorgung in den Niederlanden oder im Ausland durch nicht vertraglich gebundene Ärzte oder Einrichtungen besteht erst nach vorheriger Genehmigung. Diese hängt davon ab, dass die Versorgung notwendig ist und nicht "rechtzeitig" durch einen vertraglich gebundenen Arzt im Inland erlangt werden kann.

Frau Müller-Fauré konsultierte im Oktober und November 1994 während eines Urlaubs in Deutschland einen Zahnarzt, ohne die vorherige Genehmigung ihrer Krankenkasse eingeholt zu haben. Nach ihrer Rückkehr in die Niederlande beantragte sie bei der Krankenkasse Zwijndrecht die Erstattung der Kosten für ihre Behandlung (Einsetzen von sechs Kronen und einer festsitzenden Prothese).

Frau van Riet, die seit 1985 an Schmerzen im rechten Handgelenk litt, beantragte bei der Krankenkasse Amsterdam die Übernahme der Kosten für eine Arthroskopie und eine Ulnaresektion, die im Mai 1993 in Belgien durchgeführt worden waren, ohne dass sie zuvor eine Genehmigung eingeholt hatte. Die Vorbereitung, Ausführung und Nachbehandlung dieser Eingriffe erfolgte binnen sehr viel kürzerer Zeit, als dies in den Niederlanden möglich gewesen wäre, zum Teil im Krankenhaus, zum Teil außerhalb.

In beiden Fällen lehnte die Krankenkasse die Erstattung der Krankheitskosten mit der Begründung ab, dass die notwendige medizinische Versorgung innerhalb angemessener Frist in den Niederlanden hätte erfolgen können.

Das zuständige Gericht, der Centrale Raad van Beroep, bei dem die Rechtsstreitigkeiten zwischen den Betroffenen und ihren Krankenkassen anhängig sind, fragt den Gerichtshof, ob die niederländische Regelung mit dem Grundsatz des durch den Vertrag garantierten freien Dienstleistungsverkehrs vereinbar ist.

Der Gerichtshof führt aus, dass die niederländische Regelung die Sozialversicherten davon abhalte oder sogar daran hindere, sich an medizinische Dienstleistungserbringer in einem anderen Mitgliedstaat als dem Mitgliedstaat der Versicherungszugehörigkeit zu wenden, und sowohl für die Versicherten als auch für die Leistungserbringer eine Behinderung des freien Dienstleistungsverkehrs darstelle.

Der Gerichtshof prüft, ob diese Behinderung gerechtfertigt sein kann. Er weist darauf hin, dass eine erhebliche Gefährdung des finanziellen Gleichgewichts des Systems der sozialen Sicherheit und die Aufrechterhaltung einer qualitativ hochwertigen, ausgewogenen sowie allen zugänglichen ärztlichen und klinischen Versorgung Gründe seien, die die Behinderung rechtfertigen könnten. Hierbei sei zwischen Krankenhausleistungen und Leistungen außerhalb eines Krankenhauses zu unterscheiden.

Zur Krankenhausversorgung

Der Gerichtshof hat bereits im Urteil Smits und Peerbooms1 festgestellt, dass das System der vorherigen Genehmigung im Rahmen eines auf vertraglichen Vereinbarungen beruhenden Systems der Gesundheitsversorgung es ermögliche, im Inland zu gewährleisten, dass ein ausgewogenes Angebot qualitativ hochwertiger Krankenhausversorgung ständig in ausreichendem Maß zugänglich sei, sowie dazu beizutragen, die Kosten zu beherrschen und jede Verschwendung finanzieller, technischer und menschlicher Ressourcen zu verhindern.

Das Erfordernis einer vorherigen Genehmigung im Fall einer Krankenhausversorgung in einem anderen Mitgliedstaat sei somit gerechtfertigt. Zusätzlich müssten die Voraussetzungen für die Erteilung einer derartigen Genehmigung in Anbetracht der erwähnten zwingenden Gründe gerechtfertigt sein und dem Erfordernis der Verhältnismäßigkeit genügen und dürften keinen Raum lassen für ein missbräuchliches Verhalten der nationalen Behörden.

So vertritt der Gerichtshof hinsichtlich der in der niederländischen Regelung aufgestellten Voraussetzung der Notwendigkeit der Behandlung die Auffassung, dass die vorherige Genehmigung nur versagt werden dürfe, wenn der Patient die gleiche oder eine ebenso wirksame Behandlung rechtzeitig in einer vertraglich gebundenen Einrichtung erlangen könne. Die nationalen Behörden hätten nicht nur den eigentlichen Gesundheitszustand des Patienten und gegebenenfalls das Ausmaß seiner Schmerzen oder die Art seiner Behinderung, die z. B. die Ausübung einer Berufstätigkeit unmöglich machen oder außerordentlich erschweren könnte, sondern auch die Vorgeschichte des Patienten zu berücksichtigen.

Zur Versorgung außerhalb eines Krankenhauses

Nach Auffassung des Gerichtshofes ist im Licht der vor ihm vorgetragenen Argumente nicht ersichtlich, dass die Aufhebung des Erfordernisses der vorherigen Genehmigung für eine außerhalb eines Krankenhauses geleistete Versorgung ungeachtet der Sprachbarrieren, der räumlichen Entfernung, der Kosten eines Auslandsaufenthalts und des Mangels an Informationen über die Art der Versorgung derart viele Patienten veranlassen würde, sich ins Ausland zu begeben, dass dadurch das finanzielle Gleichgewicht des niederländischen Systems der sozialen Sicherheit erheblich gestört würde und infolgedessen das Gesamtniveau des Schutzes der öffentlichen Gesundheit gefährdet wäre, was eine Beschränkung des elementaren Grundsatzes des freien Dienstleistungsverkehrs wirksam rechtfertigen könnte.

Weiter prüft der Gerichtshof, ob die Aufhebung des Erfordernisses der vorherigen Genehmigung geeignet ist, die wesentlichen Merkmale des Systems des Zugangs zur Gesundheitsversorgung in den Niederlanden in Frage zu stellen.

Der Gerichtshof erinnert in diesem Zusammenhang daran, dass die Mitgliedstaaten für die Ausgestaltung ihrer Systeme der sozialen Sicherheit zuständig seien, bei der Ausübung dieser Befugnis aber das Gemeinschaftsrecht beachten müssten. Die Verwirklichung der Grundfreiheiten wie des freien Dienstleistungsverkehrs verpflichte die Mitgliedstaaten unvermeidlich, einige Anpassungen in ihren nationalen Systemen der sozialen Sicherheit vorzunehmen.

Der Gerichtshof stellt fest, dass

- bereits im Rahmen der Anwendung der Verordnung Nr. 1408/71 über die soziale Sicherheit der Wanderarbeitnehmer und ihrer Familienangehörigen diejenigen Mitgliedstaaten, die ein Sachleistungssystem errichtet hatten, Mechanismen der nachträglichen Erstattung der Kosten für eine in einem anderen Mitgliedstaat als dem zuständigen durchgeführte Behandlung hätten vorsehen müssen,

- Versicherte die Übernahme der Krankheitskosten nur insoweit verlangen könnten, als das Krankenversicherungssystem des Staates der Versicherungszugehörigkeit eine Deckung garantiere,

- der zuständige Mitgliedstaat, der über ein Sachleistungssystem verfüge, die Erstattungsbeträge festsetzen könne, auf die die Patienten, die in einem anderen Mitgliedstaat versorgt wurden, Anspruch hätten, soweit diese Beträge auf objektiven, nichtdiskriminierenden und transparenten Kriterien beruhten.

Der Gerichtshof kommt zu dem Ergebnis, dass nicht erwiesen sei, dass die Aufhebung des Erfordernisses der vorherigen Genehmigung geeignet wäre, die wesentlichen Merkmale des niederländischen Krankenversicherungssystems zu beeinträchtigen.

Der Grundsatz des freien Dienstleistungsverkehrs stehe somit einer Regelung wie der niederländischen entgegen, wonach der Versicherte auch im Rahmen eines Sachleistungssystems bei einer Versorgung außerhalb eines Krankenhauses, die in einem anderen Mitgliedstaat durch einen nicht vertraglich gebundenen Leistungserbringer erfolge, eine vorherige Genehmigung einholen müsse.
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1 Urteil vom 12. Juli 2001 in der Rechtssache C-157/99; vgl. Pressemitteilung Nr. 32/01.

Originaltext des Urteils:

Urteil des Europäischen Gerichtshofes in der Rechtssache C-385/99: Müller-Fauré