Deutsch-Französisches Doppelbesteuerungsabkommen

Verpflichtet nicht zu gleichen Steuersätzen in den Abkommensstaaten
(C-336/96 vom 12.05.1998, Gilly)

Der Fall:

Die Eheleute Robert und Annette Gilly sind Lehrer im öffentlichen Schulwesen und wohnen in Frankreich nahe der deutschen Grenze. Frau Gilly ist durch die Heirat sowohl deutsche als auch französische Staatsangehörige, und unterrichtet in einer deutschen Schule. In den Jahren 1989 bis 1993 sind die Dienstbezüge Frau Gillys nach dem Abkommen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Französischen Republik zur Vermeidung der Doppelbesteuerung (Doppelbesteuerungsabkommen) in Deutschland besteuert worden, da sie auch deutsche Staatsangehörige ist. Die Besteuerung der Einkünfte in Deutschland eröffnet jedoch einen Anspruch auf Steueranrechnung in Höhe der diesen Einkünften entsprechenden französischen Steuer. Dieser auf die französische Steuer anrechenbare Betrag kann wegen der stärkeren Progression des deutschen Steuersystems niedriger sein als die in Deutschland gezahlte Steuer. Herr und Frau Gilly sind daher der Ansicht, dass die Anwendung des Doppelbesteuerungsabkommens zu einer ungerechtfertigten und diskriminierenden Höherbesteuerung führe, als bei Personen, die die gleichen Einkünfte erzielt hätten, dies aber ausschließlich in Frankreich.

Laut Europäischem Gerichtshof verstößt das streitige Doppelbesteuerungsabkommen nicht gegen Gemeinschaftsrecht, da ein solches Abkommen lediglich verhindern soll, dass ein und dieselben Einkünfte in beiden Staaten besteuert werden. Hingegen soll es nicht gewährleisten, dass die Steuern, die von den Steuerpflichtigen in dem einen Staat erhoben werden, nicht höher sind als diejenigen, die von ihm in dem anderen Staat erhoben werden.

Das Urteil:

1. Artikel 48 EG-Vertrag1 ist dahin auszulegen, dass er der Anwendung von Bestimmungen wie den Artikeln 13 Absatz 5 Buchstabe a, 14 Absatz 1 und 16 des am 21. Juli 1959 unterzeichneten Abkommens zwischen der Französischen Republik und der Bundesrepublik Deutschland zur Vermeidung der Doppelbesteuerungen, geändert durch die in Bonn unterzeichneten Zusatzabkommen vom 9. Juni 1969 und vom 28. September 1989, nicht entgegensteht, die eine unterschiedliche Besteuerung zum einen für Grenzgänger vorsehen, je nachdem, ob sie im privaten oder im öffentlichen Sektor beschäftigt sind und, wenn sie im öffentlichen Sektor beschäftigt sind, je nachdem, ob sie die Staatsangehörigkeit des Staates, in dessen Verwaltung sie beschäftigt sind, besitzen oder nicht, und zum anderen für Lehrkräfte, je nachdem, ob ihr Aufenthalt in dem Staat, in dem sie ihre Berufstätigkeit ausüben, von kurzer Dauer ist oder nicht.

2. Artikel 48 des Vertrages1 ist dahin auszulegen, dass er der Anwendung eines Steueranrechnungsverfahrens wie desjenigen des Artikels 20 Absatz 2 Buchstabe a Doppelbuchstabe cc des Abkommens nicht entgegensteht.
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1 Jetzt Artikel 39 EG.

Die Pressemitteilung:

Urteil des Europäischen Gerichtshofes in der Rechtssache C-336/96: Annette Gilly und Robert Gilly / Directeur des services fiscaux du Bas-Rhin

Pressemitteilung des Europäischen Gerichtshofes vom 12. Mai 1998 Nr. 33/98

Ein Abkommen zwischen zwei Mitgliedstaaten zur Vermeidung der Doppelbesteuerung auf dem Gebiet der Einkommensteuer soll nicht gewährleisten, dass die Steuern, die von dem Steuerpflichtigen in dem einen Staat erhoben werden, nicht höher sind als diejenigen, die von ihm in dem anderen Staat erhoben werden.

Der Gerichtshof äußert sich zu dem deutsch-französischen Abkommen im Fall eines Grenzgängers

I. Der Sachverhalt

Herr und Frau Gilly haben ihren Wohnsitz in Frankreich nahe der deutschen Grenze. Herr Gilly ist französischer Staatsangehöriger und Lehrer im öffentlichen Schulwesen in Frankreich. Frau Gilly ist deutsche Staatsangehörige und hat durch die Eheschließung auch die französische Staatsangehörigkeit erworben; sie ist Lehrerin an einer öffentlichen Schule in Deutschland, die im Grenzgebiet liegt.

Hinsichtlich der Einkommensteuer unterliegt Frau Gilly den Regelungen des Abkommens zwischen der Französischen Republik und der Bundesrepublik Deutschland zur Vermeidung der Doppelbesteuerungen und über gegenseitige Amts- und Rechtshilfe auf dem Gebiet der Steuern vom Einkommen und vom Vermögen sowie der Gewerbesteuern und der Grundsteuern (im folgenden: Abkommen).

II. Die betroffenen Vorschriften des Abkommens

- Grundsatz: Die Arbeitnehmer unterliegen der Besteuerung durch den Staat, in dem die persönliche Tätigkeit, aus der die Einkünfte herrühren, ausgeübt wird (Kassenstaat) (Art. 13 Absatz 1).


- Ausnahmen: Die Grenzgänger unterliegen der Besteuerung durch ihren Wohnsitzstaat (Art. 13 Abs. 5 Buchstabe a); Steuerpflichtige, die Einkünfte aus öffentlichen Kassen beziehen, sind grundsätzlich im Kassenstaat steuerpflichtig (Art. 14 Abs. 1 Satz 1). Jedoch können Vergütungen dann, wenn sie an Personen gezahlt werden, die die Staatsangehörigkeit des anderen Staates besitzen, ohne zugleich Staatsangehörige des erstgenannten Staates zu sein, nur von dem Staat besteuert werden, in dem die Steuerpflichtigen ansässig sind (Art. 14 Abs. 1 Satz 2).


- Das Steueranrechnungsverfahren [das durch Artikel 20 Absatz 2 a) cc) des Abkommens eingeführt wurde] soll die Doppelbesteuerung vermeiden, der französische Staatsangehörige unterlägen, die in Deutschland Gewinne oder andere Einkünfte erzielen, die zugleich in Deutschland und in Frankreich besteuert würden. Dieses Verfahren besteht darin, dass die in Deutschland erzielten Arbeitseinkünfte in die nach französischem Recht berechnete Bemessungsgrundlage einbezogen werden und dann ein Steuer gewährt wird, der, insbesondere bei den unter Artikel 14 des Abkommens fallenden Einkünften, dem Betrag der diesen Einkünften entsprechenden französischen Steuer entspricht. Dieser Betrag entspricht dem Anteil des in Deutschland besteuerten Nettoeinkommens an den gesamten in Frankreich besteuerten Nettoeinkünften.

III. Der Rechtsstreit

Die von Frau Gilly in den Jahren 1989 - 1993 empfangenen Dienstbezüge sind nach dem Abkommen in Deutschland besteuert worden, da sie deutsche Staatsangehörige ist. Diese Bezüge sind aufgrund des Abkommens auch in Frankreich besteuert worden; die Besteuerung dieser Einkünfte in Deutschland eröffnet jedoch einen Anspruch auf Steueranrechnung in Höhe der diesen Einkünften entsprechenden französischen Steuer.

Herr und Frau Gilly haben durch mehrere Klagen die Berechnung der Einkommensteuer durch die zuständige französische Finanzverwaltung in bezug auf das Einkommen von Frau Gilly in den Jahren 1989-1993 auf Grundlage des Abkommens angegriffen. Das angerufene Verwaltungsgericht in Straßburg hat festgestellt, dass nach der sogenannten Regel des Effektivsteuersatzes der Steueranrechnungsbetrag dem Produkt des Betrages der in Deutschland besteuerten Nettoeinkünfte und des Steuersatzes entspricht, der sich aus dem Verhältnis zwischen der Steuer, die aufgrund der nach den französischen Rechtsvorschriften zu besteuernden Nettogesamteinkünfte tatsächlich geschuldet wird, und dem Betrag dieser Nettogesamteinkünfte ergibt. Dieser auf die französische Steuer anrechenbare Betrag kann dem vorlegenden Gericht zufolge wegen der stärkeren Progression des deutschen Steuersystems niedriger sein als die in Deutschland tatsächlich gezahlte Steuer. Bei den französischen Grenzgängern, die sowohl in Deutschland mit ihren dort erzielten Einkünften als auch in Frankreich mit ihren Gesamteinkünften nach Abzug des oben genannten Steueranrechnungsbetrags der Steuer unterlägen, könne die Besteuerung somit höher sein als bei Personen, die die gleichen Einkünfte erzielt hätten, dies aber ausschließlich in Frankreich.

In ihren Klagen haben Frau und Herr Gilly geltend gemacht, die Anwendung der genannten Bestimmungen des Abkommens habe zu einer ungerechtfertigten und diskriminierenden Höherbesteuerung geführt, die gegen das Gemeinschaftsrecht verstoße.

Da das Tribunal administratif Straßburg der Ansicht ist, dass die Entscheidung der bei ihm anhängigen Rechtsstreitigkeiten von der Auslegung der Gemeinschaftsrechtsprinzipien abhänge, hat es das Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof Vorabentscheidungsfragen vorgelegt, die der Gerichtshof heute beantwortet hat.

IV. Entscheidungsgründe des Gerichtshofes

Zur Vereinbarkeit der angegriffenen Vorschriften des deutsch-französischen Abkommens mit dem Prinzip der Freizügigkeit der Arbeitnehmer

a. Zu den Artikeln 13, 14 und 16 des Abkommens

Das vorlegende Gericht fragt, ob Artikel 48 des Vertrages dahin auszulegen sei, dass er der Anwendung von Bestimmungen wie den Artikeln 13 Absatz 5 Buchstabe a, 14 Absatz 1 und 16 des Abkommens entgegenstehe.

Der Gerichtshof stellt zunächst fest, dass Frau Gilly durch ihre Eheschließung die französische Staatsangehörigkeit erworben habe und ihre berufliche Tätigkeit in Deutschland ausübe, ihren Wohnsitz aber in Frankreich habe. Aufgrund dessen sei sie im letztgenannten Staat als Arbeitnehmer anzusehen, der von seinem durch den Vertrag gewährleisteten Recht auf Freizügigkeit Gebrauch mache, um einer Beschäftigung in einem anderen Mitgliedstaat nachzugehen. Der Umstand, dass sie die Staatsangehörigkeit des Beschäftigungsstaats behalten habe, ändere nichts daran, dass sie für die französischen Behörden als französische Staatsangehörige ihre berufliche Tätigkeit im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats ausübe.

Des weiteren beschreibt der Gerichtshof den aktuellen Rechtsstand bezüglich der Vermeidung der Doppelbesteuerung: Zwar gehöre die Beseitung der Doppelbesteuerung innerhalb der Gemeinschaft zu den Zielen des Vertrages, doch sei festzustellen dass bis heute (abgesehen vom Übereinkommen vom 23. Juli 1990 im Falle von Gewinnberichtigungen zwischen verbundenen Unternehmen) auf Gemeinschaftsebene keine Vereinheitlichungs- oder Harmonisierungsmaßnahme zur Beseitigung der Doppelbesteuerung erlassen worden sei und dass die Mitgliedstaaten kein multitlaterales Übereinkommen nach Artikel 220 des Vertrages mit diesem Ziel geschlossen hätten. Die Mitgliedstaaten, die dafür zuständig seien, die Kriterien für die Besteuerung des Einkommens und des Vermögens festzulegen, um - gegebenenfalls im Vertragswege - die Doppelbesteuerung zu vermeiden, hätten zahlreiche bilaterale Abkommen geschlossen. In diesem Zusammenhang sehe das zwischen Deutschland und Frankreich geschlossene Abkommen verschiedene Anknüpfungsfaktoren für die Aufteilung der Zuständigkeit auf dem Gebiet der Besteuerung der Einkünfte aus nichtselbständiger Arbeit zwischen den Vertragsparteien vor.

Bezüglich der angegriffenen Artikel 13, 14 und 16 des Abkommens führt der Gerichtshof aus, dass diese Vorschriften unterschiedliche Anknüpfungspunkte vorsähen, je nachdem, ob die Steuerpflichtigen Grenzgänger seien oder nicht, ob sie Gastlehrkräfte seien oder nicht, oder ob sie im privaten oder im öffentlichen Sektor arbeiten. Was insbesondere die letztgenannte Gruppe von Arbeitnehmern angehe, unterlägen sie grundsätzlich der Besteuerung im Kassenstaat, sofern sie nicht die Staatsangehörigkeit des anderen Vertragsstaates besäßen, ohne zugleich Angehörige des Kassenstaats zu sein, in welchem Fall sie in ihrem Wohnsitzstaat der Besteuerung unterlägen.

Der Gerichtshof stellt fest, dass derartige Unterscheidungen nicht so gewertet werden könnten, als begründeten sie eine durch Artikel 48 des Vertrages verbotene unterschiedliche Behandlung. Sie ergäben sich nämlich, in Ermangelung gemeinschaftsrechlicher Vereinheitlichungs- oder Harmonisierungsmaßnahmen insbesondere nach Artikel 220 zweiter Gedankenstrich des Vertrages, aus der Befugnis der Vertragsparteien, die Kriterien für die Aufteilung ihrer Steuerhoheit untereinander festzulegen, um Doppelbesteuerungen zu beseitigen.

Das Kassenstaatsprinzip, das in dem Abkommen vorgesehen sei, finde seine Grundlage in den Regeln der internationalen Courtoisie und des gegenseitigen Respekts souveräner Hoheitsträger und sei in so vielen Abkommen zwischen Mitgliedstaaten der OECD enthalten, dass es bereits als international anerkannt angesehen werden könne. Außerdem sei im vorliegenden Fall nicht erwiesen, dass die Festlegung des Kassenstaats als des für die Besteuerung der im öffentlichen Sektor erzielten Einkünfte zuständigen Staates als solche nachteilige Auswirkungen auf die betroffenen Steuerpflichtigen haben könnte. Die Vorteilhaftigkeit oder Nachteiligkeit der steuerlichen Behandlung der betroffenen Steuerpflichtigen ergebe sich nicht so sehr aus der Wahl des Anknüpfungsfaktors, sondern aus dem Niveau der Besteuerung in dem angesichts der mangelnden gemeinschaftsrechtlichen Harmonisierung der Steuersätze für die direkten Steuern zuständigen Staat.

b. Zu Artikel 20 des Abkommens

Das vorlegende Gericht fragt, ob Artikel 48 des Vertrages dahin auszulegen sei, dass er der Anwendung eines Steueranrechnungsverfahrens wie desjenigen des Artikels 20 Absatz 2 Buchstabe a Doppelbuchstabe cc des Abkommens entgegenstehe.

Nach Auffassung von Frau und Herrn Gilly benachteiligt das streitige Steueranrechnungsverfahren diejenigen, die von ihrem Recht auf Freizügigkeit Gebrauch machen, da es eine Doppelbesteuerung bestehen lasse. Aufgrund der höheren Progression der deutschen Steuer gegenüber der französischen Steuer und des Anteils der Arbeitseinkünfte von Frau Gilly an der Gesamtheit der in Frankreich besteuerten gemeinsamen Einkünfte bleibe der Steueranrechnungsbetrag stets niedriger als die tatsächlich in Deutschland gezahlte Steuer. Ferner habe der Umstand, dass die persönliche und familiäre Situation von Frau Gilly in Deutschland nicht berücksichtigt werde, während dies in Frankreich bei der Berechnung der Steuer auf die Gesamteinkünfte der Fall sei, zur Folge, dass der im Wohnsitzstaat berücksichtigte Steueranrechnungsbetrag niedriger sei als der Betrag der tatsächlich im Beschäftigungsstaat gezahlten Steuer, wenn man die im erstgenannten Staat gewährten Freibeträge und Ermäßigungen berücksichtige.

Hierzu hebt der Gerichtshof hervor, dass ein Abkommen wie das hier streitige lediglich verhindern solle, dass ein und dieselben Einkünfte in beiden Staaten besteuert würden. Es solle nicht gewährleisten, dass die Steuern, die von dem Steuerpflichtigen in dem einen Staat erhoben würden, nicht höher seien als diejenigen, die von ihm in dem anderen Staat erhoben würden.

Nun stehe fest, dass die nachteiligen Auswirkungen, die im vorliegenden Fall mit dem durch das bilaterale Abkommen eingeführten Steueranrechnungsverfahren, so wie es im Rahmen des Steuersystems des Wohnsitzstaats angewendet werde, möglicherweise verbunden seien, sich in erster Linie aus den unterschiedlichen Steuersätzen der betreffenden Mitgliedstaaten ergäben, deren Festsetzung in Ermangelung einer Gemeinschaftsregelung auf diesem Gebiet in die alleinige Zuständigkeit der Mitgliedstaaten falle. Im übrigen wäre der Wohnsitzstaat, wenn er als Steueranrechnungsbetrag einen höheren Betrag als den den Einkünften aus ausländischer Quelle entsprechenden Teilbetrag der nationalen Steuer berücksichtigen müsste, gezwungen, seine Steuer auf die übrigen Einkünfte entsprechend zu verringern, was für diesen Staat zu einem Verlust an Steuereinnahmen führen und damit seine Souveränität auf dem Gebiet der direkten Steuern beeinträchtigen würde.