Europa-Mittelmeer-Abkommen

Arbeitsgenehmigung kann Aufenthaltsrecht begründen
(C-97/05 vom 14.12.2006, Gattoussi)

Der Fall:

Der tunesische Staatsangehörige Mohamed Gattoussi heiratete im August 2002 eine deutsche Staatsangehörige. Die Botschaft der Bundesrepublik Deutschland in Tunis stellte ihm für seine Einreise nach Deutschland ein Visum zur Familienzusammenführung aus.
Am 24. September 2002 wurde Herrn Gattoussi vom Oberbürgermeister der Stadt Rüsselsheim, wo sich das Ehepaar niederlassen wollte, eine Aufenthaltserlaubnis für drei Jahre erteilt. Am 22. Oktober 2002 erteilte das Arbeitsamt Darmstadt Herrn Gattoussi eine unbefristete Arbeitsgenehmigung.
Am 11. März 2003 schloss er einen auf ein Jahr befristeten Arbeitsvertrag, der später bis zum 31. März 2005 verlängert wurde.
Nachdem der Oberbürgermeister der Stadt Rüsselsheim von der Ehefrau von Herrn Gattoussi davon unterrichtet worden war, dass sie seit dem 1. April 2004 von ihrem Mann getrennt lebe, befristete er die Aufenthaltserlaubnis von Herrn Gattoussi mit Bescheid vom 23. Juni 2004 auf den Tag der Zustellung dieser Verfügung und forderte ihn auf, Deutschland bei Meidung der Abschiebung nach Tunesien unverzüglich zu verlassen. Zur Begründung wurde in dem Bescheid ausgeführt, dass zum einen der ursprüngliche Grund für die Aufenthaltserlaubnis von Herrn Gattoussi entfallen sei, da die eheliche Lebensgemeinschaft nach deutschem Recht kein von der Aufenthaltserlaubnis unabhängiges übergeordnetes Recht auf Fortsetzung einer nichtselbständigen Erwerbstätigkeit und auf weiteren Aufenthalt vermittle. Auch aus dem Europa-Mittelmeer-Abkommen könne Herr Gattoussi kein Aufenthaltsrecht ableiten, weil sich aus dem dort in Artikel 64 Absatz 11 angeführten Diskriminierungsverbot keine aufenthaltsrechtlichen Ansprüche für tunesische Staatsangehörige ergäben.

Der Europäische Gerichtshof stellte fest, dass Artikel 64 Absatz 1 des Europa-Mittelmeer-Abkommens, es einem Mitgliedstaat zwar grundsätzlich nicht untersagt, Maßnahmen in Bezug auf das Aufenthaltsrecht eines tunesischen Staatsangehörigen zu ergreifen, der zunächst die Erlaubnis zum Aufenthalt in diesem Mitgliedstaat und zur Aufnahme einer Berufstätigkeit dort erhalten hat.
Jedoch darf dem Betroffenen durch derartige Maßnahmen nicht das Recht auf tatsächliche Ausübung einer Beschäftigung, das ihm durch eine von der zuständigen nationalen Behörde ordnungsgemäß erteilte Arbeitserlaubnis erteilt worden war, die länger als die Aufenthaltserlaubnis war, entzogen werden, ohne dass Gründe des Schutzes eines berechtigten Interesses des Staates, namentlich Gründe der öffentlichen Ordnung2, Sicherheit und Gesundheit, dies rechtfertigen. In Anbetracht der Grundsätze des Vertrauensschutzes gilt dies erst recht, wenn, wie im vorliegenden Fall, der Aufnahmemitgliedstaat die Aufenthaltserlaubnis nachträglich befristet.
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1 Artikel 64 Absatz 1 lautet: "Jeder Mitgliedstaat gewährt den Arbeitnehmern tunesischer Staatsangehörigkeit, die in seinem Hoheitsgebiet beschäftigt sind, eine Behandlung, die hinsichtlich der Arbeits-, Entlohnungs- und Kündigungsbedingungen keine auf der Staatsangehörigkeit beruhende Benachteiligung gegenüber seinen eigenen Staatsangehörigen bewirkt.
2 Der Begriff der öffentlichen Ordnung setzt voraus, dass eine tatsächliche und hinreichend schwere Gefährdung vorliegt, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt.

Das Urteil:

Artikel 64 Absatz 1 des Europa-Mittelmeer-Abkommens vom 17. Juli 1995 zur Gründung einer Assoziation zwischen der Europäischen Gemeinschaft und ihren Mitgliedstaaten einerseits und der Tunesischen Republik andererseits ist dahin auszulegen, dass er Wirkungen auf das Recht eines tunesischen Staatsangehörigen entfaltet, sich im Gebiet eines Mitgliedstaats aufzuhalten, wenn dieser Staatsangehörige von diesem Mitgliedstaat eine ordnungsgemäße Genehmigung erhalten hat, eine Berufstätigkeit für eine die Dauer seiner Aufenthaltserlaubnis übersteigende Zeit auszuüben.

Originaltext des Urteils:

Urteil des Europäischen Gerichtshofes in der Rechtssache C-97/05: Gattoussi