Rechtsgrundlos gezahlte Renten

Guter Glaube von Rentnern ist bei Rückforderung zu berücksichtigen
(C-34/02 vom 19.06.2003, Pasquini)

Der Fall:

Der italienische Staatsbürger Sante Pasquini, wohnhaft in Luxemburg, war nacheinander als Arbeitnehmer 140 Wochen in Italien, 336 Wochen in Frankreich und 1 256 Wochen in Luxemburg tätig. Nachdem Herr Pasquini das 60. Lebensjahr vollendet hatte, wurde ihm 1987 von der zuständigen italienischen Behörde eine Altersrente bewilligt, die bis zu der in Italien vorgeschriebenen Rente aufgestockt wurde, da er seinerzeit weder eine französische noch eine luxemburgische Rente bezog.
Abgewanderte Arbeitnehmer haben nach italienischem Recht Anspruch auf Zahlung eines Vorschusses auf ihre Rente, die bis zum Erreichen der in Italien vorgeschriebenen Mindestrente aufgestockt wird. Diese Aufstockung kann jedoch nicht mehr gewährt werden, wenn der Berechtigte einen Anspruch auf eine ausländische Rente hat. Sie wird dann im Verhältnis zu den gegebenenfalls von ausländischen Trägern gezahlten Beiträgen zurückverlangt. Ferner ist vorgesehen, dass die gezahlten Renten jederzeit berichtigt oder zurückgefordert werden können, wenn bei der Bewilligung oder Auszahlung der Renten ein Fehler unterlaufen ist.
Nachdem Herrn Pasquini eine französische Rente bewilligt wurde, berechnete die zuständige italienische Behörde im Juli 1988 die bewilligte Rente neu und kürzte sie. Im selben Jahr wurde ihm auch vom luxemburgischen Sozialversicherungsträger eine Altersrente bewilligt; davon wurde die italienische Behörde jedoch erst im November 1999 in Kenntnis gesetzt. Im Jahr 2000 schließlich berechnete die italienische Behörde unter Berücksichtigung der ausländischen Renten die italienische Rente neu und kürzte sie rückwirkend zum 1. Juli 1988. Zum Ausgleich der rechtsgrundlos gezahlten Beträge stellte die Behörde die Zahlung der Rente komplett ein. Herr Pasquini ist der Ansicht, die italienische Regelung für die Rückzahlung rechtsgrundlos gezahlter Beiträge verstoße gegen die Gemeinschaftsverordnung über den Schutz der Arbeitnehmer und erhob deswegen Klage.

Laut Europäischem Gerichtshof ist bei der Rückforderung von rechtsgrundlos gezahlten Rentenleistungen der gute Glaube des Rentners zu berücksichtigen. Ferner seien die Einkünfte der Rentner und ihre Auswirkung auf den Anspruch oder den Betrag von Rentenleistungen einmal jährlich zu prüfen.

Das Urteil:

Da die Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 des Rates vom 14. Juni 1971 zur Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und Selbständige sowie deren Familienangehörige, die innerhalb der Gemeinschaft zu- und abwandern, in der durch die Verordnung (EG) Nr. 118/97 des Rates vom 2. Dezember 1996 geänderten und aktualisierten Fassung nur die Koordinierung der nationalen Rechtsvorschriften auf dem Gebiet der sozialen Sicherheit gewährleistet, ist auf einen Sachverhalt, der sich daraus ergibt, dass einem Betroffenen, der wegen seiner Zugehörigkeit zu den Systemen der sozialen Sicherheit verschiedener Mitgliedstaaten mehrere Renten bezieht, eine Aufstockung seiner Rente wegen Überschreitung der zulässigen Einkommenshöchstgrenze rechtsgrundlos gezahlt worden ist, das nationale Recht anwendbar. Die Frist von zwei Jahren in den Artikeln 94, 95, 95a und 95b der Verordnung Nr. 1408/71 kann auf einen solchen Sachverhalt nicht entsprechend angewandt werden.

Das nationale Recht muss jedoch den gemeinschaftlichen Äquivalenzgrundsatz, wonach das Verfahren für die Behandlung von Sachverhalten, die ihren Ursprung in der Ausübung einer Gemeinschaftsfreiheit haben, nicht weniger günstig sein darf als das Verfahren für die Behandlung rein innerstaatlicher Sachverhalte, und den gemeinschaftlichen Grundsatz der Effektivität wahren, wonach dieses Verfahren die Ausübung der aus dem Sachverhalt mit gemeinschaftlichem Ursprung entstandenen Rechte nicht praktisch unmöglich machen oder übermäßig erschweren darf.

Diese Grundsätze sind auf sämtliche Verfahrensbestimmungen für die Behandlung von Sachverhalten, die ihren Ursprung in der Ausübung einer Gemeinschaftsfreiheit haben, unabhängig davon anzuwenden, ob es sich um ein Verwaltungs- oder Gerichtsverfahren handelt, wie die für die Verjährung und die Rückforderung rechtsgrundlos gezahlter Beträge geltenden nationalen Bestimmungen oder diejenigen, die die zuständigen Träger verpflichten, den guten Glauben der Betroffenen zu berücksichtigen oder deren Situation in Bezug auf Renten regelmäßig zu überprüfen.

Die Pressemitteilung:

Urteil des Europäischen Gerichtshofes in der Rechtssache C-34/02: Sante Pasquini / Istituto nazionale della previdenza sociale (INPS)

Pressemitteilung des Europäischen Gerichtshofes Nr. 54/03 vom 19 Juni 2003

Die Gemeinschaftsgrundsätze der Äquivalenz und der Effektivität verpflichten das INPS, den guten Glauben des Rentners zu berücksichtigen und regelmäßig einmal jährlich die Situation der im Ruhestand befindlichen abgewanderten Arbeitnehmer zu prüfen.

Der rückforderbare Betrag darf höchstens den Beträgen entsprechen, die ein Jahr lang rechtsgrundlos bezogen wurden.

Nach der italienischen Rentenregelung haben abgewanderte Arbeitnehmer Anspruch auf Zahlung eines Vorschusses auf ihre Rente, die bis zum Erreichen der in Italien vorgeschriebenen Mindestrente aufgestockt wird. Hat der Berechtigte daneben Anspruch auf eine ausländische Rente, so kann diese Aufstockung nicht mehr gewährt werden; sie wird dann im Verhältnis zu den gegebenenfalls von ausländischen Trägern gezahlten Beträgen zurückverlangt.

Ferner ist vorgesehen, dass die im Rahmen des allgemeinen Pflichtversicherungssystems gezahlten Renten vom zahlenden Träger berücksichtigt und nach Unterrichtung des Betroffenen jederzeit berichtigt oder zurückgefordert werden können, wenn bei der Bewilligung oder der Auszahlung der Renten ein Fehler unterlaufen ist.

Herr Sante Pasquini, der gegenwärtig in Luxemburg wohnt, arbeitete nacheinander 140 Wochen in Italien, 336 Wochen in Frankreich und 1 256 Wochen in Luxemburg.

1987, nach Vollendung seines 60. Lebensjahres, wurde ihm vom INPS (Istituto nazionale della previdenza sociale) eine Altersrente bewilligt, die bis zur Höhe der in Italien vorgeschriebenen Mindestrente aufgestockt wurde, da er seinerzeit weder eine französische noch eine luxemburgische Rente bezog.

Im Juli 1988 berechnete das INPS die bewilligte Rente neu und kürzte sie wegen der Bewilligung einer anteiligen französischen Rente.

Ebenfalls 1988 bewilligte der luxemburgische Rentenversicherungsträger eine Altersrente, unterrichtete das INPS davon jedoch verspätet (im November 1999).

Im Jahr 2000 berechnete das INPS auf der Grundlage dieser Angaben die italienische Rente neu und kürzte sie rückwirkend vom 1. Juli 1988. Zum Ausgleich der rechtsgrundlos gezahlten Beträge (29 000 Euro) stellte das INPS die Auszahlung der Rente vollständig ein.

Herr Pasquini erhob Klage beim Tribunale di Roma, Abteilung für arbeitsrechtliche Streitigkeiten, und wandte sich gegen die italienische Regelung für die Rückzahlung rechtsgrundlos gezahlter Beträge mit der Begründung, diese verstoße gegen die Gemeinschaftsverordnungen über den Schutz der Arbeitnehmer.

Ist eine nationale Rechtsvorschrift, die keine Befristung der Rückforderung rechtsgrundlos gezahlter Beträge vorsieht, mit der Gemeinschaftsverordnung über die Systeme der sozialen Sicherheit der Arbeitnehmer1 vereinbar? Kann die (in dieser Verordnung) vorgesehene Frist von zwei Jahren für die rückwirkende Geltendmachung von Ansprüchen in Fällen, in denen die Verordnungen zugunsten der Arbeitnehmer geändert wurden, angewandt werden?

Der Gerichtshof stellt zunächst klar, dass die Frist von zwei Jahren nicht entsprechend angewandt werden könne, da es sich um Übergangsregelungen handele, die nur für Änderungen der Verordnung vorgesehen seien.

Sodann weist der Gerichtshof darauf hin, dass die Verordnung von 1971 über die Systeme der sozialen Sicherheit die Koordinierung (nicht die Harmonisierung) der einschlägigen nationalen Rechtsvorschriften bezwecke: Insbesondere bei der Berechnung der Verjährung für die Rückforderung rechtsgrundlos gezahlter Beträge sei das nationale Recht der Mitgliedstaaten anwendbar.

Bei einem Wanderarbeitnehmer müssten die Mitgliedstaaten bei der Ausübung dieser Befugnis das Gemeinschaftsrecht, insbesondere die Grundsätze der Äquivalenz und der Effektivität, beachten. Die Verfahren zur Regelung der Ansprüche aufgrund einer im Vertrag vorgesehenen Freiheit dürften nicht weniger günstig gestaltet werden als die Verfahren zur Behandlung innerstaatlicher Sachverhalte. Sie dürften die Ausübung der durch den Vertrag verliehenen Rechte nicht unmöglich machen oder übermäßig erschweren.

Wenn eine nationale Bestimmung existiere, wonach wegen des Zusammentreffens mehrerer Renten rechtsgrundlos gezahlte Beträge von einem gutgläubigen Rentner nicht zurückgefordert werden dürften, so sei diese Bestimmung auf Herrn Pasquini anzuwenden. Bei italienischen Renten aufgrund verschiedener Systeme des nationalen Rechts existiere eine Bestimmung des italienischen Rechts, die das INPS verpflichte, die Einkünfte der Rentner und ihre Auswirkung auf den Anspruch oder den Betrag von Rentenleistungen einmal jährlich zu prüfen. Hätte das INPS die den Wanderarbeitnehmern gezahlten Renten nach dem gleichen Verfahren wie bei den nationalen Systemen überprüft, so wäre die Rückforderung rechtsgrundlos gezahlter Beträge auf alle Fälle auf einen Zeitraum von einem Jahr begrenzt worden.

(Unerheblich sei, dass der luxemburgische Träger das INPS von der Bewilligung seiner Rente verspätet unterrichtet habe: Die Pflicht zur unverzüglichen Unterrichtung solle nur die Beziehungen zwischen den Trägern der sozialen Sicherheit regeln und nicht die Ansprüche der Betroffenen gegen die Träger festlegen.)
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1 Verordnung Nr. 1408/71 vom 14. Juni 1971.

Originaltext des Urteils:

Urteil des Europäischen Gerichtshofes in der Rechtssache C-34/02: Pasquini