Anspruch auf Gewährung des Existenzminimums

Für Studenten, die sich in anderen Mitgliedstaaten aufhalten, müssen dieselben Voraussetzungen gelten wie für inländische
(C-184/99 vom 20.09.2001, Grzelczyk)

Der Fall:

Herr Rudy Grzelczyk, der die französische Staatsbürgerschaft besitzt, nahm 1995 an der Universität Louvain- la- Neuve ein Sportstudium auf und verlegte hierzu seinen Aufenthalt nach Belgien. Während er in den ersten drei Studienjahren für sich selbst sorgen konnte, erhielt Herr Grzelczyk im vierten Studienjahr auf Antrag zunächst das Existenzminimum ("Minimex") für 1998/ 99. Vom 1. Januar 1999 an wurde ihm jedoch die weitere Gewährung des "Minimex" mit der Begründung versagt, dass er nicht die gesetzlichen Voraussetzungen für die Gewährung des Existenzminimums erfülle, insbesondere sei er kein belgischer Staatsangehöriger. Nicht- belgischen Staatsangehörigen steht ein Anspruch auf das Existenzminimum hingegen nur dann zu, wenn sie als Arbeitnehmer eines anderen Mitgliedstaates von ihrer Freizügigkeit Gebrauch gemacht haben. In seiner Eigenschaft als Student könne sich Herr Grzelczyk jedoch nicht darauf berufen, als Arbeitnehmer eines anderen Mitgliedstaates angesehen zu werden.

Laut Europäischem Gerichtshof stellt die Ungleichbehandlung bei der Gewährung des Existenzminimums eine mit dem EG- Vertrag nicht zu vereinbare Diskriminierung aufgrund der Staatsangehörigkeit dar.

Das Urteil:

Mit den Artikeln 6 und 8 EG-Vertrag (nach Änderung jetzt Artikel 12 EG und 17 EG) ist es nicht vereinbar, dass die Gewährung einer beitragsunabhängigen Sozialleistung wie des Existenzminimums nach Artikel 1 des belgischen Gesetzes vom 7. August 1974 bei Angehörigen anderer Mitgliedstaaten als des Aufnahmemitgliedstaats, in dem sie sich rechtmäßig aufhalten, von der Voraussetzung abhängt, dass sie in den Anwendungsbereich der Verordnung (EWG) Nr. 1612/68 des Rates vom 15. Oktober 1968 über die Freizügigkeit der Arbeitnehmer innerhalb der Gemeinschaft fallen, während für die Angehörigen des Aufnahmemitgliedstaats eine derartige Voraussetzung nicht gilt.

Die Pressemitteilung:

Urteil des Europäischen Gerichtshofes in der Rechtssache C-184/99: Rudy Grzelczyk / Centre public d'aide sociale d'Ottignies-Louvain-la-Neuve

Pressemitteilung des Europäischen Gerichtshofes Nr. 41/01 vom 20. September 2001

Studenten, die sich in einem anderen Mitgliedstaat aufhalten, müssen unter denselben Voraussetzungen wie die inländischen Studenten Anspruch auf Gewährung des Existenzminimums haben

Der Gerichtshof ist der Auffassung, dass der Status eines Bürgers der Europäischen Union dazu bestimmt ist, der grundlegende Status der Angehörigen der Mitgliedstaaten zu sein, der es ihnen erlaubt, in den vom Gemeinschaftsrecht erfassten Bereichen unabhängig von ihrer Staatsangehörigkeit die gleiche rechtliche Behandlung zu genießen.

Herr Grzelczyk ist Student französischer Staatsangehörigkeit. Er absolvierte in Belgien ein Sportstudium an der Universität Louvain-la-Neuve. In den ersten drei Studienjahren kam er für seinen Unterhalt, seine Unterbringung und das Studium selbst auf, indem er verschiedene kleinere Beschäftigungen ausübte und Zahlungserleichterungen erhielt. Wegen der größeren Beanspruchung im vierten Studienjahr erhielt er vom Centre public d'aide sociale d'Ottignies- Louvain-la-Neuve (CPAS) auf Antrag zunächst das Existenzminimum ("Minimex") für 1998/99.

Diese soziale Vergünstigung wurde ihm vom 1. Januar 1999 an entzogen, wobei das zuständige Ministerium seine Entscheidung mit der Studenteneigenschaft von Herrn Grzelczyk begründete. Der Anspruch auf Gewährung des "Minimex" war bei seiner Einführung im Jahr 1974 grundsätzlich volljährigen belgischen Staatsangehörigen vorbehalten, die in Belgien wohnen und nicht über ausreichende Mittel verfügen. 1987 wurde der Anspruch unter anderem auf Personen ausgedehnt, die in den Anwendungsbereich der Gemeinschaftsverordnung von 1968 über die Freizügigkeit der Arbeitnehmer innerhalb der Gemeinschaft fallen.

Herr Grzelczyk griff die Entscheidung des CPAS vom 29. Januar 1999, mit der ihm das "Minimex" entzogen wurde, beim zuständigen belgischen Gericht (Nivelles) an.
Das Tribunal du travail Nivelles befragt den Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften zur Vereinbarkeit der belgischen Rechtsvorschriften mit dem Gemeinschaftsrecht: Ist es mit dem EG-Vertrag, insbesondere mit den darin aufgestellten Grundsätzen der Unionsbürgerschaft und der Nichtdiskriminierung, vereinbar, dass die Gewährung einer beitragsunabhängigen Sozialleistung von der Voraussetzung abhängt, dass die Angehörigen anderer Mitgliedstaaten (hier: ein französischer Student) als Arbeitnehmer anzusehen sind, während für die Angehörigen des Aufnahmemitgliedstaats (hier: die belgischen Studenten) diese Voraussetzung nicht gilt?

Der Gerichtshof weist zunächst darauf hin, dass das "Minimex" eine soziale Vergünstigung sei und dass ein belgischer Student, der sich in der gleichen Situation wie Herr Grzelczyk befinde, die Voraussetzungen für die Gewährung dieser Vergünstigung erfüllt hätte. Daher werde Herr Grzelczyk allein aufgrund der Staatsangehörigkeit diskriminiert. Im Anwendungsbereich des EG- Vertrags sei eine solche Diskriminierung aber nach diesem Vertrag verboten.

Die Situationen, die in den Anwendungsbereich des EG-Vertrags fielen, schlössen auch die ein, die zur Ausübung der durch den Vertrag garantierten Grundfreiheiten, und insbesondere die, die zur Ausübung der im Rahmen der Vertragsbestimmungen über die Unionsbürgerschaft gewährleisteten Freiheit, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten zu bewegen und aufzuhalten, gehörten. Der Status eines Bürgers der Europäischen Union ist dazu bestimmt, der grundlegende Status der Angehörigen der Mitgliedstaaten zu sein, der es ihnen erlaubt, in den vom Gemeinschaftsrecht erfassten Bereichen unabhängig von ihrer Staatsangehörigkeit die gleiche rechtliche Behandlung zu genießen.

Seit der Einführung der Unionsbürgerschaft durch den am 1. November 1993 in Kraft getretenen Vertrag über die Europäische Union sei es durch nichts erlaubt, einem Unionsbürger, der in einem anderen Mitgliedstaat als dem, dem er angehöre, ein Hochschulstudium absolviere, die Möglichkeit zu nehmen, sich auf das Verbot jeder Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit zu berufen.

Zwar könnten die Mitgliedstaaten von den Studenten, die vom Recht auf Aufenthalt in ihrem Hoheitsgebiet Gebrauch machen wollten, nach einer Gemeinschaftsrichtlinie verlangen, dass sie glaubhaft machten, dass sie für sich selbst und gegebenenfalls für ihre Familienangehörigen über ausreichende Mittel verfügten, so dass sie und ihre Familie nicht über Gebühr die Sozialhilfe des Aufnahmemitgliedstaats in Anspruch nehmen müssten.

Diese Beurteilung habe aber zu dem Zeitpunkt zu erfolgen, zu dem diese Erklärung abgegeben werde. Der Gerichtshof führt weiter aus, dass sich die finanzielle Situation eines Studenten im Laufe der Zeit aus Gründen ändern könne, die von seinem Willen unabhängig seien, und dass die Bestimmungen dieser Gemeinschaftsrichtlinie daher nicht zur Folge hätten, dass Studenten die Sozialhilfe des Aufnahmemitgliedstaats später nicht in Anspruch nehmen könnten.

Unter diesen Umständen ist der Gerichtshof der Auffassung, dass es mit den Bestimmungen über die Nichtdiskriminierung und die Unionsbürgerschaft nicht vereinbar sei, dass die Gewährung einer beitragsunabhängigen Sozialleistung von einer Voraussetzung abhänge, deren Einhaltung von den Angehörigen des Aufnahmemitgliedstaats nicht verlangt werde.

Entgegen dem Antrag der belgischen Regierung lehnt es der Gerichtshof ab, die zeitliche Wirkung seines Urteils zu begrenzen: Die Bestimmungen über die Unionsbürgerschaft seien seit dem Inkrafttreten des Vertrages über die Europäische Union anwendbar.

Originaltext des Urteils:

Urteil des Europäischen Gerichtshofes in der Rechtssache C-184/99: Grzelczyk