Familienleistungen für Familienangehörige eines inhaftierten Gemeinschaftsbürgers

Gewährung kann davon abhängig gemacht werden, dass die Strafe im Innland verbüßt wird
(C-302/02 vom 20.01.2005, Effing)

Der Fall:

Der deutsche Staatsangehörige Ingo Effing war in Österreich als Angestellter beschäftigt. Im Jahr 2000 wurde er zu einer Freiheitsstrafe verurteilt. Daraufhin erhielt sein minderjähriger Sohn, ein österreichischer Staatsangehöriger, vom 1. Juni 2000 bis zum 31. Mai 2003 einen monatlichen Unterhaltsvorschuss nach österreichischem Recht. Herr Effing verbüßte seine Freiheitsstrafe zunächst in Österreich und später in Deutschland. In der deutschen Justizvollzugsanstalt war er gegen Entgelt beschäftigt. Wegen der Überstellung nach Deutschland beschlossen die österreichischen Behörden, die Zahlung der Unterhaltsvorschüsse für Herrn Effings Sohn einzustellen, weil das österreichische Recht verlange, dass die fragliche Person ihre Strafe im Inland verbüße.

Laut Europäischem Gerichtshof ist es gemeinschaftsrechtlich zulässig, dass ein Mitgliedstaat die Gewährung von Familienleistungen an die Familienangehörigen eines in Haft befindlichen Gemeinschaftsbürgers davon abhängig macht, dass er im Gebiet dieses Mitgliedstaats in Haft bleibt.

Das Urteil:

Unter Umständen wie denen des Ausgangsverfahrens, die darin bestehen, dass sich ein Arbeitnehmer im Sinne von Artikel 2 Absatz 1 der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 des Rates vom 14. Juni 1971 zur Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und Selbständige sowie deren Familienangehörige, die innerhalb der Gemeinschaft zu- und abwandern, in der Fassung der Verordnung (EG) Nr. 1386/2001 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 5. Juni 2001 als Strafgefangener in seinen Herkunftsmitgliedstaat überstellen ließ, um dort den Rest seiner Strafe zu verbüßen, sind nach Artikel 13 Absatz 2 dieser Verordnung im Bereich der Familienleistungen die Rechtsvorschriften dieses Mitgliedstaats anzuwenden. Weder die Bestimmungen der genannten Verordnung, insbesondere ihr Artikel 3, noch Artikel 12 EG stehen den Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats entgegen, die in einem solchen Fall die Gewährung von Familienleistungen der im österreichischen Bundesgesetz über die Gewährung von Vorschüssen auf den Unterhalt von Kindern (Unterhaltsvorschussgesetz) vorgesehenen Art an die Familienangehörigen eines solchen Gemeinschaftsbürgers davon abhängig machen, dass er im Gebiet dieses Mitgliedstaats in Haft bleibt.

Die Pressemitteilung:

Urteil des Europäischen Gerichtshofes in der Rechtssache C-302/02: Nils Laurin Effing

Pressemitteilung des Europäischen Gerichtshofes Nr. 06/05 vom 20. Januar 2005

Nationale Rechtsvorschriften, die Familienleistungen für die Familienangehörigen eines in Haft befindlichen Gemeinschaftsbürgers davon abhängig machen, dass er im Inland in Haft bleibt, verstoßen nicht gegen den Gleichheitsgrundsatz.

Im Bereich der Familienleistungen sind, wenn sich ein Arbeitnehmer als Strafgefangener in seinen Herkunftsstaat überstellen ließ, um dort den Rest seiner Strafe zu verbüßen, die Rechtsvorschriften dieses Mitgliedstaats anzuwenden.

Ingo Effing, ein deutscher Staatsangehöriger, hatte seinen gewöhnlichen Aufenthalt in Österreich, wo er als Angestellter arbeitete. Im Jahr 2000 wurde er zu einer Freiheitsstrafe verurteilt. Sein minderjähriger Sohn Nils Laurin Effing, ein österreichischer Staatsangehöriger, erhielt daraufhin für die Zeit vom 1. Juni 2000 bis 31. Mai 2003 einen monatlichen Unterhaltsvorschuss nach dem österreichischen Bundesgesetz über die Gewährung von Vorschüssen auf den Unterhalt von Kindern.

Ingo Effing verbüßte seine Strafe zunächst in der Justizanstalt Garsten in Österreich, wurde dann aber zur weiteren Strafvollstreckung in sein Herkunftsland Deutschland überstellt. In der deutschen Justizvollzugsanstalt war er entsprechend der nach deutschem Recht für Strafgefangene bestehenden Arbeitspflicht gegen Entgeld beschäftigt.

Nach der Überstellung beschlossen die österreichischen Behörden, die dem Kind gezahlten Unterhaltsvorschüsse einzustellen, weil das österreichische Recht verlange, dass die fragliche Person ihre Strafe im Inland verbüße.

Im Anschluss an eine im Namen des Sohnes eingereichte Klage auf Fortzahlung dieser Vorschüsse hat der Oberste Gerichtshof dem Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften eine Frage zur Vorabentscheidung vorgelegt, die dahin geht, ob die Auslegung des genannten Bundesgesetzes durch die österreichischen Behörden eine Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit darstellen könnte.

Der Gerichtshof weist zunächst darauf hin, dass mit der Gemeinschaftsverordnung über die Systeme der sozialen Sicherheit für Arbeitnehmer und Selbständige, die innerhalb der EU zu- und abwandern1, die Schwierigkeiten, die sich aus der gleichzeitigen Anwendung von Rechtsvorschriften mehrerer Mitgliedstaaten ergeben können, vermieden werden sollen.

Er fügt hinzu, dass die Unterhaltsvorschüsse nach dem von ihm bereits ausgelegten Wortlaut der Verordnung Familienleistungen darstellen und dass Ingo Effing als „Arbeitnehmer" einzustufen ist, da er während seiner Haft in Deutschland Beiträge zur Arbeitslosenversicherung entrichtete.

Die Verordnung ist dahin auszulegen, dass in einem Fall, in dem eine Person - nach einer Überstellung - jede Berufstätigkeit in einem Mitgliedstaat (Österreich) beendet hat und dort nicht mehr wohnt, die Gewährung von Familienleistungen den Rechtsvorschriften des Mitgliedstaats unterliegt, in dem der Betroffene wohnt und, im vorliegenden Fall, den Rest seiner Strafe verbüßt (Deutschland). Auf ihn können daher nicht die Rechtsvorschriften des Mitgliedstaats anzuwenden sein, aus dem er überstellt wurde.

Aus diesen Gründen hält der Gerichtshof es für gemeinschaftsrechtlich zulässig, dass ein Mitgliedstaat die Gewährung von Familienleistungen an die Familienangehörigen eines in Haft befindlichen Gemeinschaftsbürgers davon abhängig macht, dass er im Gebiet dieses Mitgliedstaats in Haft bleibt.
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1 Die Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 des Rates vom 14. Juni in der Fassung der Verordnung (EG) Nr. 1386/2001 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 5. Juni 2001 soll im Rahmen der Freizügigkeit die innerstaatlichen Vorschriften über soziale Sicherheit gemäß den Zielen des Artikels 42 EG koordinieren. Artikel 3 der Verordnung 1408/71 gewährleitstet im Einklang mit Artikel 39 EG, dass die unter die Verordnung fallenden Arbeitnehmer auf dem Gebiet der sozialen Sicherheit ohne Unterscheidung nach der Staatsangehörigkeit gleichgestellt werden.

Originaltext des Urteils:

Urteil des Europäischen Gerichtshofes in der Rechtssache C-302/02: Effing