Studium nach Ausübung einer Berufstätigkeit

Bestimmte, mit der Arbeitnehmereigenschaft zusammenhängende Rechte bleiben erhalten, wenn kein Arbeitsverhältnis mehr besteht
(C-39/86 vom 21.06.1988, Lair)

Der Fall:

Die französische Staatsangehörige Sylvie Lair war im Januar 1979 in die Bundesrepublik Deutschland gezogen, wo sie bis Juni 1981 als Bankangestellte arbeitete. In der Zeit von Juli 1981 bis September 1984 war sie überwiegend arbeitslos oder befand sich in einer Umschulung; dazwischen lagen kurze Beschäftigungszeiten, deren letzte im Juli 1983 endete. Im Oktober 1984 nahm sie an der Universität Hannover ein Studium der Romanistik und Germanistik auf; ein Studium, das zu einem berufsqualifizierenden Abschluss führt. Frau Lairs Antrag auf Ausbildungsförderung wurde von der Universität abgelehnt, da sie nicht die gesetzlichen Voraussetzungen für die Gewährung der Förderung an Ausländer in Form einer wenigstens fünfjährigen Erwerbstätigkeit in der Bundesrepublik Deutschland erfüllt hatte.

Laut Europäischem Gerichtshof hat Frau Lair allein aufgrund ihrer EG-Staatsangehörigkeit Anspruch auf den Teil der streitigen Förderung, der der Deckung von Einschreibegebühren oder anderen Gebühren, insbesondere von Studiengebühren, dient, die für den Zugang zum Unterricht verlangt werden. Wäre Frau Lair noch als Arbeitnehmerin im Sinne der gemeinschaftsrechtlichen Freizügigkeitsvorschriften zu qualifizieren, könnte sie die volle Förderungssumme für den Lebensunterhalt und die Ausbildung zur Durchführung eines Hochschulstudiums verlangen. Diese Förderung stellt nämlich eine soziale Vergünstigung dar, die EU-ausländischen Arbeitnehmern unter den gleichen Voraussetzungen zu gewähren ist, wie den inländischen Arbeitnehmern.
Laut Europäischem Gerichtshof hängt bei fehlendem Arbeitsverhältnis die Aufrechterhaltung der Arbeitnehmereigenschaft im Rahmen der Hochschulausbildungsförderung davon ab, dass zwischen dem Gegenstand des Studiums und der früheren Berufstätigkeit ein Zusammenhang besteht. Eine Ausnahme gilt dann, wenn der Wanderarbeitnehmer unfreiwillig arbeitslos geworden ist und ihn die Lage auf dem Arbeitsmarkt zu einer beruflichen Umschulung zwingt.

Das Urteil:

1. Artikel 7 Absatz 1 EWG-Vertrag1 gilt beim gegenwärtigen Entwicklungsstand des Gemeinschaftsrechts nur insoweit für eine Förderung, die ein Mitgliedstaat seinen eigenen Staatsangehörigen zur Durchführung eines Hochschulstudiums für den Lebensunterhalt und die Ausbildung gewährt, als eine solche Förderung der Deckung von Einschreibegebühren oder anderen Gebühren, insbesondere von Studiengebühren, dient, die für den Zugang zum Unterricht verlangt werden.

2. Eine Förderung, die für den Lebensunterhalt und die Ausbildung zur Durchführung eines Hochschulstudiums gewährt wird, das zu einem berufsqualifizierenden Abschluss führt, stellt eine soziale Vergünstigung im Sinne von Artikel 7 Absatz 2 der Verordnung Nr . 1612/68 des Rates vom 15 . Oktober 1968 über die Freizügigkeit der Arbeitnehmer innerhalb der Gemeinschaft ( ABl . L 257, S . 2 ) dar.

3. Ein Angehöriger eines anderen Mitgliedstaats, der im Aufnahmestaat nach Ausübung einer Berufstätigkeit ein Hochschulstudium aufnimmt, das zu einem berufsqualifizierenden Abschluss führt, ist dann weiterhin als Arbeitnehmer anzusehen, der sich als solcher auf Artikel 7 Absatz 2 der Verordnung Nr . 1612/68 berufen kann, wenn zwischen der früheren Berufstätigkeit und dem betreffenden Studium ein Zusammenhang besteht.

4. Der Aufnahmemitgliedstaat darf den Anspruch auf die gleichen sozialen Vergünstigungen im Sinne von Artikel 7 Absatz 2 der Verordnung Nr . 1612/68 nicht von der Voraussetzung abhängig machen, dass zuvor im Hoheitsgebiet dieses Staates eine Berufstätigkeit von einer bestimmten Mindestdauer ausgeübt worden ist.
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1 Jetzt Artikel 12 EG.

Originaltext des Urteils:

Urteil des Europäischen Gerichtshofes in der Rechtssache C-39/86: Lair