EU-Bürger haben Anspruch auf belgisches Überbrückungsgeld

Voraussetzung ist die Berechtigung zum Hoschulstudium in einem Mitgliedstaat
(C - 258/04 vom 15.09.2005, Ioannidis)

Der Fall:

Der griechische Staatsangehörige Ioannis Ioannidis zog 1994 nach Belgien. Sein griechisches Abschlusszeugis ist dem belgischen Abschlusszeugnis, dass zum Hochschulzugang in Belgien berechtigt, gleichwertig.

Die Hoschulzugangsberechtigung begründet laut Europäischem Gerichtshof seinen Anspruch auf belgisches Überbrückungsgeld.

Das Urteil:

Artikel 39 EG verwehrt es einem Mitgliedstaat, einem Staatsangehörigen eines anderen Mitgliedstaats, der eine erste Beschäftigung sucht und der nicht als Kind unterhaltsberechtigt gegenüber einem im ersten Mitgliedstaat wohnenden Wanderarbeitnehmer ist, Überbrückungsgeld nur mit der Begründung zu versagen, dass der Betroffene seine höhere Schulbildung in einem anderen Mitgliedstaat abgeschlossen hat.

Die Pressemitteilung:

Urteil des Europäischen Gerichtshofes in der Rechtssache C-258/04: Ioannis Ioannidis

Pressemitteilung des Europäischen Gerichtshofs Nr. 78/05 vom 15. September 2005

Eine Voraussetzung, die sich auf den Ort bezieht, an dem das Abschlusszeugnis der höheren Schulbildung erworben wurde, ist zu allgemein und ausschließlich, um einen tatsächlichen und effektiven Grad der Verbundenheit des Antragstellers auf Überbrückungsgeld mit dem räumlichen Arbeitmarkt zu gewährleisten.

Eine belgische Regelung 1 sieht für junge Menschen, die ihr Studium bzw. ihre Schulbildung abgeschlossen haben und eine erste Beschäftigung suchen, eine als „Überbrückungsgeld“ bezeichnete Arbeitslosenunterstützung vor. Der junge Arbeitnehmer, der einem Studium oder einer Ausbildung in einem anderen Mitgliedstaat der Europäischen Union nachgegangen ist, hat darauf Anspruch, wenn er nachweist, dass dieses Studium oder diese Ausbildung dem Studium oder der Ausbildung an einer von einer belgischen Gemeinschaft errichteten, bezuschussten oder anerkannten Lehranstalt gleichrangig und gleichwertig ist; er muss außerdem – zum Zeitpunkt der Stellung des Antrags – als Kind unterhaltsberechtigt gegenüber in Belgien wohnenden Wanderarbeitnehmern sein.

Nach Abschluss seiner höheren Schulbildung in Griechenland zog Herr Ioannidis, ein griechischer Staatsbürger, 1994 nach Belgien. Das ihm in Griechenland erteilte Abschlusszeugnis wurde als dem Abschlusszeugnis der Sekundarstufe II, das in Belgien den Zugang zum Hochschulstudium von kurzer Dauer eröffnet, gleichwertig anerkannt. Nach dreijähriger Ausbildung erhielt er in Belgien das Abschlusszeugnis in Physiotherapie. Er erhielt ferner in Frankreich eine bezahlte Ausbildung auf dem Gebiet der Vestibularisrehabilitation. 2001 stellte Herr Ioannidis, nachdem er nach Belgien 1 Königliche Verordnung vom 25. November 1991 zur Regelung der Arbeitslosigkeit ( Moniteur belge vom 31. Dezember 1991, S. 29888). zurückgekehrt war, beim Office de l’emploi (ONEM) einen Antrag auf Überbrückungsgeld.

Das ONEM lehnte diesen Antrag mit der Begründung ab, dass er seine höhere Schulbildung nicht an einer von einer der drei belgischen Gemeinschaften errichteten, bezuschussten oder anerkannten Lehranstalt abgeschlossen habe.

Die Cour du travail Lüttich, die im zweiten Rechtszug befasst ist, hat den Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften gefragt, ob es das Gemeinschaftsrecht einem Mitgliedstaat verwehrt, das Überbrückungsgeld einem Staatsangehörigen eines anderen Mitgliedstaats, der eine erste Beschäftigung sucht, nur mit der Begründung zu versagen, dass er seine höhere Schulbildung in einem anderen Mitgliedstaat abgeschlossen hat.

Zuerst weist der Gerichtshof darauf hin, dass die Staatsangehörigen eines Mitgliedstaats, die in einem anderen Mitgliedstaat eine Beschäftigung suchen, in den Anwendungsbereich des EG-Vertrags fallen und daher Anspruch auf Gleichbehandlung haben. Sodann erinnert der Gerichtshof daran, dass der Gleichheitssatz nicht nur offensichtliche Diskriminierungen aufgrund der Staatsangehörigkeit, sondern alle versteckten Formen der Diskriminierung verbietet, die durch die Anwendung anderer Unterscheidungsmerkmale tatsächlich zu dem gleichen Ergebnis führen.

Die belgische Regelung schafft eine unterschiedliche Behandlung von Bürgern, die ihre höhere Schulbildung in Belgien abgeschlossen haben, und denjenigen, die sie in einem anderen Mitgliedstaat abgeschlossen haben: Nur die Erstgenannten haben Anspruch auf Überbrückungsgeld. Diese Voraussetzung kann von inländischen Staatsangehörigen leichter erfüllt werden und birgt die Gefahr, dass hauptsächlich die Staatsangehörigen anderer Mitgliedstaaten benachteiligt werden.

Eine solche unterschiedliche Behandlung kann nur dann gerechtfertigt werden, wenn sie auf objektiven, von der Staatsangehörigkeit der Betroffenen unabhängigen Erwägungen beruht und in einem angemessenen Verhältnis zu dem Zweck steht, der mit den nationalen Rechtsvorschriften zulässigerweise verfolgt wird. Es ist ein legitimes Anliegen des Gesetzgebers, sich einer tatsächlichen Beziehung zwischen demjenigen, der Überbrückungsgeld beantragt, und dem betroffenen räumlichen Arbeitsmarkt vergewissern zu wollen. Nur auf den Ort der Erlangung des Schulabgangszeugnisses abzustellen, ist jedoch zu allgemein und ausschließlich. Eine solche Bedingung misst nämlich einem Gesichtspunktunangemessen hohe Bedeutung bei, der nicht zwangsläufig für den tatsächlichen und effektiven Grad der Verbundenheit des Antragstellers mit dem räumlichen Arbeitsmarkt repräsentativ ist, und schließt jeden anderen repräsentativen Gesichtspunkt aus. Sie geht damit über das zur Erreichung des verfolgten Ziels Erforderliche hinaus.

Der Umstand, dass die Eltern von Herrn Ioannidis keine in Belgien wohnenden Wanderarbeitnehmer sind, kann jedenfalls die Versagung des Überbrückungsgeldes nicht begründen. Diese Voraussetzung kann nicht mit dem Bestreben gerechtfertigt werden, sich vom Bestehen eines tatsächlichen Zusammenhangs zwischen dem Antragsteller und dem betroffenen räumlichen Arbeitsmarkt zu vergewissern, denn es lässt sich nicht ausschließen, dass eine Person, die nach dem Abschluss einer höheren Schulbildung in einem Mitgliedstaat eine Hochschulausbildung in einem anderen Mitgliedstaat erhält und einen Abschluss erlangt, in der Lage ist, eine tatsächliche Beziehung zum Arbeitsmarktes dieses Staates nachzuweisen, auch wenn sie nicht unterhaltsberechtigt gegenüber in diesem Staat wohnenden Wanderarbeitnehmern ist.

Originaltext des Urteils:

Urteil des Europäischen Gerichtshofes in der Rechtssache C-258/04 :
Office national de l'emploi / Ioannis Ioannidis