Zuständigkeiten für Familienleistungen bei Grenzgängern

Es gibt Ausnahmen, von dem Grundsatz, dass der Beschäftigungsstaat vorrangig zuständig ist
(C - 543/03 vom 07.06.2006 Dodl und Oberhollenzer)

Der Fall:

Die österreichischen Staatsangehörigen Christine Dodl und Petra Oberhollenzer sind beide in Österreich berufstätig. Sie leben mit ihrem deutschen Ehemann beziehungsweise Lebensgefährten, die beide in Deutschland arbeiten, in Deutschland. Für ihre Kinder haben die beiden Frauen sowohl nach österreichischem als auch nach deutschem Recht Anspruch auf Familienleistungen.

Hat ein Arbeitnehmer Anspruch auf die gleichen Familienleistungen sowohl in dem Staat, in dem er arbeitet, als auch - allein aufgrund seines Wohnsitzes - in dem Staat, in dem er mit seiner Familie wohnt, ist laut Europäischem Gerichtshof der Beschäftigungsmitgliedstaat grundsätzlich vorrangig für die Gewährung der Leistung zuständig. Übt jedoch eine Person, die das Sorgerecht für die Kinder hat, insbesondere der Ehegatte des betreffenden Arbeitnehmers, eine Erwerbstätigkeit in dem Mitgliedstaat aus, in dem die Familie wohnt, so sind die Familienleistungen von diesem Staat (hier: Deutschland) zu gewähren. Ist im Beschäftigungsstaat ein höherer Leistungsbetrag vorgesehen als im Wohnstaat, hat der Beschäftigungsstaat den Differenzbetrag zu zahlen.

Das Urteil:

Eine Person besitzt die Arbeitnehmereigenschaft im Sinne der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 des Rates vom 14. Juni 1971 zur Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und Selbständige sowie deren Familienangehörige, die innerhalb der Gemeinschaft zu- und abwandern, in ihrer durch die Verordnung (EG) Nr. 1386/2001 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 5. Juni 2001 geänderten und aktualisierten Fassung, wenn sie auch nur gegen ein einziges Risiko im Rahmen eines der in Artikel 1 Buchstabe a dieser Verordnung genannten allgemeinen oder besonderen Systeme der sozialen Sicherheit pflichtversichert oder freiwillig versichert ist, und zwar unabhängig vom Bestehen eines Arbeitsverhältnisses. Es ist Sache des nationalen Gerichts, die notwendigen Prüfungen vorzunehmen, um festzustellen, ob die Klägerinnen der Ausgangsverfahren in den Zeiträumen, für die die fraglichen Leistungen beantragt wurden, einem Zweig des österreichischen Systems der sozialen Sicherheit angehört haben und damit unter den Begriff „Arbeitnehmer“ im Sinne von Artikel 1 Buchstabe a fielen.

Räumen die Rechtsvorschriften des Beschäftigungsmitgliedstaats und die des Wohnmitgliedstaats eines Arbeitnehmers diesem für denselben Familienangehörigen und für denselben Zeitraum Ansprüche auf Familienleistungen ein, so ist der für die Gewährung dieser Leistungen zuständige Mitgliedstaat nach Artikel 10 Absatz 1 Buchstabe a der Verordnung (EWG) Nr. 574/72 des Rates vom 21. März 1972 über die Durchführung der Verordnung Nr. 1408/71 in der durch die Verordnung (EG) Nr. 410/2002 der Kommission vom 27. Februar 2002 geänderten und aktualisierten Fassung grundsätzlich der Beschäftigungsmitgliedstaat.

Übt jedoch eine Person, die das Sorgerecht für die Kinder hat, insbesondere der Ehegatte oder der Lebensgefährte des Arbeitnehmers, eine Erwerbstätigkeit im Wohnmitgliedstaat aus, so sind die Familienleistungen nach Artikel 10 Absatz 1 Buchstabe b Ziffer i der Verordnung Nr. 574/72 in der durch die Verordnung Nr. 410/2002 geänderten Fassung von diesem Mitgliedstaat zu gewähren, unabhängig davon, wer der in den Rechtsvorschriften dieses Staates bezeichnete unmittelbare Empfänger dieser Leistungen ist. In diesem Fall ruht die Gewährung der Familienleistungen durch den Beschäftigungsmitgliedstaat bis zur Höhe der in den Rechtsvorschriften des Wohnmitgliedstaats vorgesehenen Familienleistungen.

Die Pressemitteilung:

Urteil des Europäischen Gerichtshofes in der Rechtssache C-543/03: Christine Dodl, Petra Oberhollenzer / Tiroler Gebietskrankenkasse

Pressemitteilung des Europäischen Gerichtshofs Nr. 54/05 vom 7. Juni 2005

Es gibt Ausnahmen, von dem Grundsatz, dass der Beschäftigungsstaat vorrangig zuständig ist, wenn ein Arbeitnehmer Anspruch auf die gleichen Familienleistungen sowohl in dem Staat hat, in dem er arbeitet, als auch - allein aufgrund seines Wohnsitzes - in dem Staat, in dem er mit seiner Familie wohnt

Übt der andere Elternteil im Staat des gemeinsamen Wohnsitzes eine Erwerbstätigkeit aus, so ist dieser Staat vorrangig zuständig.Um sie nicht davon abzuhalten, von ihrem Recht auf Freizügigkeit Gebrauch zu machen, garantiert die Verordnung Nr. 1408/711 allen Arbeitnehmern, die Angehörige der Mitgliedstaaten sind, dass sie nach den innerstaatlichen Rechtsvorschriften der einzelnen Mitgliedstaaten gleichbehandelt werden und unabhängig von ihrem Arbeits- oder Wohnort in den Genuss der Leistungen der sozialen Sicherheit kommen. Grundsätzlich ist der Staat, in dem der Arbeitnehmer beschäftigt ist, für die Gewährung von Familienleistungen an den Arbeitnehmer zuständig, auch wenn dieser mit seiner Familie in einem anderen Mitgliedstaat wohnt. In Fällen, in denen es zu einer Kumulierung solcher Leistungen des Beschäftigungsstaats und des Wohnstaats kommen kann, verhindern jedoch Vorrangregeln2 eine eventuelle Überkompensation der Familienlasten.

Frau Dodl und Frau Oberhollenzer sind österreichische Staatsangehörige, die in Österreich beschäftigt sind, aber mit ihrem Ehemann bzw. Lebensgefährten, die beide deutsche Staatsangehörige sind und in Deutschland einer Vollzeitbeschäftigung nachgehen, in Deutschland wohnen. Nach der Geburt ihrer Kinder nahmen Frau Dodl und Frau Oberhollenzer unbezahlten Elternurlaub; in dieser Zeit ruhte ihr Arbeitsverhältnis. Der Ehemann und der Lebensgefährte bezogen in Deutschland als Väter die den österreichischen Familienleistungen entsprechenden Familienleistungen, jedoch nicht das deutsche Bundeserziehungsgeld, weil sie voll erwerbstätig waren.

Frau Dodl und Frau Oberhollenzer wurde das deutsche Bundeserziehungsgeld und das entsprechende österreichische Kinderbetreuungsgeld jeweils mit der Begründung versagt, dass der andere Mitgliedstaat zuständig sei. Beide erhoben Klage bei den österreichischen Gerichten. Das Oberlandesgericht Innsbruck hat das Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften zwei Fragen vorgelegt. Es möchte erstens wissen, ob Frau Dodl und Frau Oberhollenzer ihre „Arbeitnehmer"-Eigenschaft im Sinne der Verordnung Nr. 1408/71 verloren haben, weil ihr Arbeitsverhältnis geruht hat und sie in
dieser Zeit keine Sozialversicherungsbeiträge zahlen mussten, und zweitens, welcher Mitgliedstaat für die Gewährung der fraglichen Familienleistung vorrangig zuständig ist.

Die Arbeitnehmereigenschaft nach der Verordnung Nr.1408/71
Der Gerichtshof stellt unter Hinweis darauf, dass der Arbeitnehmerbegriff im
Gemeinschaftsrecht vom jeweiligen Anwendungsbereich abhängt, fest, dass eine Person die Arbeitnehmereigenschaft im Sinne der Verordnung Nr. 1408/71 besitzt, wenn sie auch nur gegen ein einziges Risiko im Rahmen eines allgemeinen oder besonderen Systems der sozialen Sicherheit pflichtversichert oder freiwillig versichert ist, und zwar unabhängig vom Bestehen eines Arbeitsverhältnisses. Der Gerichtshof überlässt diese Tatsachenfeststellung dem nationalen Gericht.

Die Vorrangregeln im Fall der Kumulierung von Ansprüchen auf Familienleistungen
Der Gerichtshof stellt fest, dass in Österreich die Mutter als in diesem Staat beschäftigte Arbeitnehmerin Anspruch auf Kinderbetreuungsgeld hat. Für den Fall, dass Frau Dodl und Frau Oberhollenzer, die mit ihren Familien in einem anderen Mitgliedstaat als dem Beschäftigungsstaat wohnen, „Arbeitnehmer" sind, erwerben sie im Beschäftigungsstaat - Österreich - einen Anspruch auf Familienleistungen aufgrund des Gemeinschaftsrechts.

Frau Dodl und Frau Oberhollenzer können aber auch in Deutschland, wo sie wohnen, vergleichbare Familienleistungen beanspruchen. In Deutschland hat nämlich ein Elternteil allein aufgrund der Tatsache, dass er und sein Kind dort wohnen, Anspruch auf Erziehungsgeld.

In einem solchen Fall der Kumulierung von Ansprüchen auf Familienleistungen für dasselbe Familienmitglied und denselben Zeitraum ist der Beschäftigungsmitgliedstaat (in diesem Fall Österreich) grundsätzlich vorrangig für die Gewährung der Leistungen zuständig. Übt jedoch eine Person, die das Sorgerecht für die Kinder hat, insbesondere der Ehegatte oder Lebensgefährte des betreffenden Arbeitnehmers, eine Erwerbstätigkeit in dem Mitgliedstaat
aus, in dem die Familie wohnt, so sind die Familienleistungen von diesem Staat zu gewähren. Es ist nicht erforderlich, dass die Erwerbstätigkeit von der Person ausgeübt wird, die persönlich Anspruch auf Familienleistungen hat. In diesem Fall ruht die Gewährung der Familienleistungen durch den Beschäftigungsstaat bis zur Höhe der in den Rechtsvorschriften des Wohnstaats vorgesehenen Familienleistungen.

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1 Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 des Rates vom 14. Juni 1971 zur Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und Selbständige sowie deren Familienangehörige, die innerhalb der Gemeinschaft
zu- und abwandern (ABl. L 149, S. 2), in ihrer durch die Verordnung (EG) Nr. 1386/2001 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 5. Juni 2001 (ABl. L 187, S. 1) geänderten und aktualisierten Fassung.


2 In der Verordnung Nr. 1408/71 selbst sowie in der Verordnung (EWG) Nr. 574/72 des Rates vom 21. März 1972 über die Durchführung der Verordnung Nr. 1408/71 in ihrer durch die Verordnung (EG) Nr. 410/2002 der
Kommission vom 27. Februar 2002 (ABl. L 62, S. 17) geänderten und aktualisierten Fassung.

Originaltext des Urteils:

Urteil des Europäischen Gerichtshofes in der Rechtssache C-543/03 : Christine Dodl, Petra Oberhollenzer / Tiroler Gebietskrankenkasse