Ausübung des Rechtsanwaltsberufs in einem anderen Mitgliedstaat

Eintragung bei Anwaltschaft des Aufnahmestaats darf nicht von Sprachtest abhängig gemacht werden
(C-506/04 vom 19.09.2006, Wilson)

Der Fall:

Der britische Staatsangehörige Graham Wilson ist Rechtsanwalt und als solcher Mitglied der Anwaltschaft von England und Wales. Seit 1994 übt er seinen Beruf in Luxemburg aus. Nach luxemburgischen Recht ist die Ausübung des Rechtsanwaltsberufes von der Voraussetzung abhängig, dass die Sprache der Rechtsvorschriften sowie die Verwaltungs- und Gerichtssprachen beherrscht werden, und eine vorherige Überprüfung dieser Kenntnisse staatgefunden hat. 2003 sollte sich Herr Wilson einer Überprüfung seiner Sprachkenntnisse durch ein Gespräch mit dem Vorstand der Rechtsanwaltskammer unterziehen. Dies verweigerte er. Daraufhin lehnte die Rechtsanwaltskammer seine Eintragung in das Verzeichnis der unter ihrer ursprünglichen Berufsbezeichnung praktizierenden Anwälte ab.

Laut Europäischem Gerichtshof steht europäisches Gemeinschaftsrecht einer nationalen Regelung entgegen, die die Eintragung eines europäischen Rechtsanwalts bei der Anwaltschaft des Aufnahmestaats von einem Sprachtest abhängig machen.

Das Urteil:

1. Artikel 9 der Richtlinie 98/5/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. Februar 1998 zur Erleichterung der ständigen Ausübung des Rechtsanwaltsberufs in einem anderen Mitgliedstaat als dem, in dem die Qualifikation erworben wurde, ist dahin auszulegen, dass er einem Rechtsbehelfsverfahren entgegensteht, in dessen Rahmen die Entscheidung über die Verweigerung der in Artikel 3 der Richtlinie erwähnten Eintragung erstinstanzlich vor einem Organ, das ausschließlich aus Rechtsanwälten besteht, die unter der Berufsbezeichnung des Aufnahmestaats tätig sind, und zweitinstanzlich vor einem Organ angefochten werden muss, das mehrheitlich aus solchen Anwälten besteht, während die Kassationsbeschwerde zum höchsten Gericht dieses Mitgliedstaats lediglich eine rechtliche Überprüfung, nicht aber eine Überprüfung der Tatsachenfeststellungen ermöglicht.

2. Artikel 3 der Richtlinie 98/5 ist dahin auszulegen, dass die Eintragung eines Rechtsanwalts bei der zuständigen Stelle eines anderen Mitgliedstaats als desjenigen, in dem er seine Berufsqualifikation erworben hat, zu dem Zweck, dort unter seiner ursprünglichen Berufsbezeichnung tätig zu sein, nicht von einer vorherigen Überprüfung der Beherrschung der Sprachen des Aufnahmestaats abhängig gemacht werden kann.

Die Pressemitteilung:

Urteile des Europäischen Gerichtshofes in den Rechtssachen C-506/04 und C-193/05: Graham J. Wilson / Odre des avocats du barreau de Luxembourg und Kommission der Europäischen Gemeinschaften / Großherzogtum Luxemburg

Pressemitteilung des Europäischen Gerichtshofes Nr. 76/06 vom 19. September 2006

Die Bestimmungen des Luxemburgischen Rechts über die Sprachkenntnisse, die europäische Rechtsanwälte besitzen müssen, um bei einer Rechtsanwaltskammer eingetragen werden zu können, widersprechen dem Gemeinschaftsrecht.

Jeder Rechtsanwalt hat das Recht, ohne vorherige Überprüfung seiner Sprachkenntnisse auf Dauer in jedem Mitgliedstaat unter seiner ursprünglichen Berufsbezeichnung tätig zu sein.

Das luxemburgische Recht macht die Ausübung des Rechtsanwaltsberufs in Luxemburg von der Voraussetzung abhängig, dass „die Sprache der Rechtsvorschriften sowie die Verwaltungs- und Gerichtssprachen" beherrscht werden, und ordnet eine vorherige Überprüfung dieser Kenntnisse an.

Herr Graham Wilson, ein Staatsangehöriger des Vereinigten Königreichs, ist Barrister. Er ist Mitglied der Anwaltschaft von England und Wales und übt in Luxemburg den Anwaltsberuf seit 1994 aus.

2003 verweigerte Herr Wilson dem Vorstand der Rechtsanwaltskammer ein Gespräch zur Überprüfung seiner Sprachkenntnisse. Daher lehnte der Kammervorstand seine Eintragung in das Verzeichnis der unter ihrer ursprünglichen Berufsbezeichnung praktizierenden Anwälte ab.

Gegen diese Entscheidung wandte sich Herr Wilson mit einer Nichtigkeitsklage an die Cour administrative d'appel, die dem Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften die Frage vorlegte, ob die Richtlinie über die Ausübung des Rechtsanwaltsberufs1 es dem Aufnahmitgliedstaat erlaubt, das Recht eines Rechtsanwalts, auf Dauer in diesem Mitgliedstaat unter seiner ursprünglichen Berufsbezeichnung tätig zu sein, von einer Überprüfung der Beherrschung der Sprachen dieses Mitgliedstaats abhängig zu machen.

Der Gerichtshof stellt fest, dass die Richtlinie darauf abzielt, die Ausübung der Niederlassungsfreiheit der Rechtsanwälte, einer Grundfreiheit, zu erleichtern und dass sie einer vorherigen Überprüfung der Sprachkenntnisse entgegensteht. Allein die Bescheinigung der Eintragung eines europäischen Rechtsanwalts bei der zuständigen Stelle des Herkunftsmitgliedstaats ist erforderlich, um sich bei einer Rechtsanwaltskammer des Aufnahmestaats eingetragen zu lassen. Zur Kompensierung des Verzichts auf die genannte vorherige Überprüfung bestehen Berufs- und Standesregeln, die den Schutz der Rechtsunterworfenen und eine ordnungsgemäße Rechtspflege gewährleisten. So ist der europäische Rechtsanwalt unter Androhung disziplinarischer Sanktionen gehalten, diese Regeln, und zwar sowohl die des Herkunftsstaats als auch die des Aufnahmestaats, zu beachten. Zu den daraus erwachsenden Pflichten zählt u. a. die Pflicht des Rechtsanwalts, keine Fälle zu bearbeiten, die Sprachkenntnisse erfordern, über die er nicht verfügt.

Außerdem hat nach der Richtlinie ein europäischer Rechtsanwalt, der sich in den Berufsstand des Aufnahmestaats integrieren möchte, eine mindestens dreijährige effektive und regelmäßige Tätigkeit im Recht des Aufnahmestaats nachzuweisen.

Der Gerichtshof gelangt zu dem Ergebnis, dass die Richtlinie nationalen Rechtsvorschriften entgegensteht, die die Eintragung eines europäischen Rechtsanwalts bei der Anwaltschaft des Aufnahmestaats von einem Sprachtest abhängig machen.

In dieser Rechtssache präzisiert der Gerichtshof im Übrigen seine Rechtsprechung zum Gerichtsbegriff. Er vertritt nämlich die Auffassung, dass ein Fall der Verweigerung der Eintragung bei der Anwaltschaft des Aufnahmestaats eröffneter Rechtsbehelf zu Disziplinargerichten, die ausschließlich oder mehrheitlich mit örtlichen Anwälten besetzt sind, kein gerichtliches Rechtsmittel sei, wie es die Mitgliedstaaten nach der Richtlinie für derartige Fälle vorsehen müssen.

Parallel hierzu hat die Kommission auch ein Vertragsverletzungsverfahren gegen Luxemburg betrieben und die Ansicht vertreten, dass drei nationale Bestimmungen in Widerspruch zur Richtlinie stünden:

Eintragung in das Anwaltsverzeichnis nach einem mündlichen Test zur Überprüfung der Sprachkenntnisse

Die luxemburgische Regierung beruft sich zur Rechtsfertigung dieser Bestimmung auf das Erfordernis einer ordnungsgemäßen Rechtspflege. Der Gerichtshof stellt hierzu wie in der Rechtssache Wilson fest, dass die Richtlinie keine andere Voraussetzung vorsieht als die, dass der Rechtsanwalt bei der Anwaltschaft des Aufnahmestaats eine Bescheinigung über seine Eintragung im Herkunftsstaat vorzulegen hat, und kommt zu dem Ergebnis, dass die luxemburgische Regelung, die die Eintragung eines europäischen Rechtsanwalts bei der zuständigen nationalen Stelle von einer vorherigen Überprüfung von Sprachkenntnissen abhängig macht, gegen die Richtlinie verstößt.

Sich an europäische Rechtsanwälte richtendes Verbot, Tätigkeiten der Domizilierung von Gesellschaften in Luxemburg auszuüben

Der Gerichtshof erinnert an den Grundsatz, dass der europäische Rechtsanwalt nach der Richtlinie vorbehaltlich der in dieser vorgesehenen Ausnahmen den gleichen beruflichen Tätigkeiten nachgehen darf wie der Anwalt, der seinen Beruf unter der Berufsbezeichnung des Aufnahmestaats ausübt. Die Tätigkeiten der Domizilierung von Gesellschaften fallen nicht unter die genannten Ausnahmen. Die Mitgliedstaaten sind nicht berechtigt, in ihrem nationalen Recht weitere Ausnahmen von diesem Grundsatz aufzustellen.

Verpflichtung zur jährlichen Vorlage einer Bescheinigung des Herkunftsstaats

Der Gerichtshof hebt hervor, dass diese Verpflichtung eine nicht gerechtfertigte administrative Belastung ist, die insofern der Richtlinie widerspricht, als diese bereits einen Grundsatz der gegenseitigen Amtshilfe festlegt, nach dem die zuständige Stelle des Herkunftsstaats die zuständige Stelle des Aufnahmestaats über die Einleitung eines Disziplinarverfahrens gegen einen europäischen Rechtsanwalt zu unterrichten hat.

Aus diesen Gründen verurteilt der Gerichtshof Luxemburg wegen Verstoßes gegen dessen gemeinschaftsrechtliche Verpflichtungen.
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1 Richtlinie 98/5/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. Februar 1998 zur Erleichterung der ständigen Ausübung des Rechtsanwaltsberufs in einem anderen Mitgliedstaat als dem, in dem die Qualifikation erworben wurde (Abl. L 77 vom 14.3.1998, S. 36).

Originaltext des Urteils:

Urteil des Europäischen Gerichtshofes in der Rechtssache C-506/04: Wilson