Assoziierungsabkommen EWG-Türkei

Durchführung von grenzüberschreitendem Güterkraftverkehr durch türkische Kraftfahrer bedarf keiner Arbeitserlaubnis in Deutschland
(C-317/01 und C-369/01 vom 21.10.2003, Abatay und Sahin)

Der Fall:

Herr Eran Abatay und andere sind türkische Staatsangehörige, die in der Türkei wohnen und als Fahrer im grenzüberschreitenden Güterverkehr arbeiten. Sie sind bei einer in der Türkei ansässigen Gesellschaft angestellt, die eine Tochtergesellschaft einer in Stuttgart ansässigen GmbH ist. Beide Gesellschaften führen Obst und Gemüse mittels Lkw aus der Türkei nach Deutschland ein. Die Lkw sind auf die GmbH in Deutschland zugelassen und werden von Herrn Abatay und anderen gefahren. Die Bundesanstalt für Arbeit hatte jedem dieser Fahrer eine Arbeitserlaubnis bis zum 30. September 1996 ausgestellt, die über diesen Zeitpunkt hinaus jedoch nicht verlängert wurden.
Herr Nadi Sahin, ebenfalls türkischer Staatsbürger und seit 1991 deutscher Staatsbürger, betreibt ein Transportunternehmen mit Sitz in Deutschland sowie ein Tochterunternehmen, welches seinen Sitz in der Türkei hat. Das deutsche Unternehmen ist Eigentümer mehrer Lkw, die in Deutschland zugelassen sind, und im grenzüberschreitenden Fernverkehr zwischen Deutschland und Drittstaaten wie der Türkei, dem Iran und dem Irak eingesetzt werden. Bereits vor September 1993 setzte Herr Sahin türkische Arbeitnehmer, die in der Türkei lebten, als Fernfahrer seiner Lkw ein.
Das Assoziierungsabkommen zwischen der EWG und der Türkei wurde 1972 durch ein Zusatzprotokoll ergänzt und es wurde später ein Beschluss erlassen, die Stillhalteklauseln, d. h. Bestimmungen, die in bestimmten Bereichen die Einführung neuer Beschränkungen verbieten, enthielten. Diese Stillhalteklauseln betrafen die Niederlassungsfreiheit, den freien Dienstleistungsverkehr sowie die Freizügigkeit der Arbeitnehmer.
Bis zum 1. September 1993 benötigte nach deutschem Recht das nichtdeutsche fahrende Personal im grenzüberschreitenden Güterverkehr für eine Tätigkeit bei Unternehmen mit Sitz in Deutschland keine Arbeitsgenehmigung. Danach war lediglich das fahrende Personal von Arbeitgebern mit Sitz im Ausland befreit. Seit dem 10. Oktober 1996 gilt die Befreiung von der Arbeitsgenehmigungspflicht unter anderem nur noch dann, wenn das Fahrzeug im Niederlassungsstaat des ausländischen Arbeitgebers zugelassen ist.
Herr Abatay und Herr Sahin waren der Ansicht, dass im grenzüberschreitenden Güterverkehr tätige Fernfahrer für Fahrten zwischen der Türkei und Deutschland weiterhin keine deutsche Arbeitsgenehmigung brauchten und stützten sich auf die Stillhalteklauseln.

Laut Europäischem Gerichtshof stellt die deutsche Regelung von 1996 eine Beschränkung des im EG- Vertrag verankerten Grundsatzes des freien Dienstleistungsverkehrs dar, da sie die Erbringung von Dienstleistungen durch ein in einem anderen Mitgliedstaat niedergelassenes Unternehmen im Inland von der Erteilung einer Arbeitserlaubnis abhängig macht. Diese Rechtsprechung ist nach dem Assoziierungsabkommen entsprechend anwendbar.

Das Urteil:

- Artikel 41 Absatz 1 des Zusatzprotokolls, das am 23. November 1970 in Brüssel unterzeichnet und durch die Verordnung (EWG) Nr. 2760/72 des Rates vom 19. Dezember 1972 im Namen der Gemeinschaft geschlossen, gebilligt und bestätigt wurde, und Artikel 13 des Beschlusses Nr. 1/80 vom 19. September 1980 über die Entwicklung der Assoziation, der von dem durch das Assoziationsabkommen zwischen der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und der Türkei geschaffenen Assoziationsrat erlassen wurde, kommt in den Mitgliedstaaten unmittelbare Wirkung zu, so dass die türkischen Staatsangehörigen, für die diese Bestimmungen gelten, sich vor den innerstaatlichen Gerichten auf sie berufen können, um die Anwendung entgegenstehender Vorschriften des innerstaatlichen Rechts auszuschließen.

- Die genannten Bestimmungen verbieten ganz generell die Einführung neuer innerstaatlicher Beschränkungen des Niederlassungsrechts sowie des freien Dienstleistungsverkehrs und der Freizügigkeit der Arbeitnehmer von dem Zeitpunkt an, zu dem der Rechtsakt, zu dem diese Artikel gehören, im Aufnahmemitgliedstaat in Kraft getreten ist.

- Artikel 13 des Beschlusses Nr. 1/80 ist auf türkische Staatsangehörige nur dann anzuwenden, wenn diese sich im Hoheitsgebiet des Aufnahmemitgliedstaats nicht nur ordnungsgemäß, sondern auch während eines hinreichend langen Zeitraums aufhalten, um sich dort schrittweise integrieren zu können.

- Unter Umständen wie denen der Ausgangsverfahren ist Artikel 41 Absatz 1 des Zusatzprotokolls auf grenzüberschreitende Gütertransporte aus der Türkei auf der Straße anzuwenden, wenn Leistungen im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats erbracht werden.

- Auf Artikel 41 Absatz 1 des Zusatzprotokolls können sich nicht nur Unternehmen mit Sitz in der Türkei, die Dienstleistungen in einem Mitgliedstaat erbringen, sondern auch die Beschäftigten solcher Unternehmen berufen, um sich gegen eine neue Beschränkung des freien Dienstleistungsverkehrs zu wenden; ein Unternehmen mit Sitz in einem Mitgliedstaat kann sich hierfür hingegen nicht auf diese Bestimmung berufen, wenn die Dienstleistungsempfänger im selben Mitgliedstaat ansässig sind.

- Artikel 41 Absatz 1 des Zusatzprotokolls verbietet es, im nationalen Recht eines Mitgliedstaats für die Erbringung von Dienstleistungen im Inland durch ein Unternehmen mit Sitz in der Türkei den Besitz einer Arbeitserlaubnis vorzuschreiben, wenn eine solche Arbeitserlaubnis nicht bereits beim Inkrafttreten dieses Zusatzprotokolls erforderlich war.

- Es ist Sache der innerstaatlichen Gerichte, festzustellen, ob die auf türkische Staatsangehörige wie die Kläger in den Ausgangsverfahren angewandte innerstaatliche Regelung weniger günstig ist als diejenige, die beim Inkrafttreten dieses Zusatzprotokolls für sie galt.

Die Pressemitteilung:

Urteil des Gerichtshofes in den verbundenen Vorabentscheidungssachen C-317/01 und C-369/01: Eran Abatay u. a. / Bundesanstalt für Arbeit und Nadi Sahin / Bundesanstalt für Arbeit

Pressemitteilung des Europäischen Gerichtshof vom 21. Oktober 2003 Nr. 92/03

Wird von türkischen Fahrern in Deutschland zugelassener LKWs, die die Strecke Türkei-Deutschland für ein Unternehmen mit Sitz in der Türkei befahren, eine Arbeitserlaubnis verlangt, so stellt dies ein Hindernis für den freien Dienstleistungsverkehr dar.

Das innerstaatliche Gericht hat zu prüfen, ob dieses Erfordernis die Situation der Kläger gegenüber dem Zustand verschlechtert, der in Deutschland vor dem Inkrafttreten des Zusatzprotokolls zum Assoziierungsabkommen zwischen der EWG und der Türkei galt.

Zur Förderung ihrer Wirtschaftsbeziehungen haben die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft und die Türkei 1963 ein Assoziierungsabkommen unterzeichnet, das 1972 durch ein Zusatzprotokoll ergänzt wurde. In Rahmen dieses Abkommens wurde später vom Assoziationsrat der Beschluss Nr. 1/80 erlassen.

Das Zusatzprotokoll und der Beschluss Nr. 1/80 enthalten Stillhalteklauseln, d. h. Bestimmungen, die in bestimmten Bereichen die Einführung neuer Beschränkungen verbieten. Das Zusatzprotokoll enthält eine Stillhalteklausel betreffend die Niederlassungsfreiheit und den freien Dienstleistungsverkehr zwischen der EWG und der Türkei. Der Beschluss Nr. 1/80 über die Freizügigkeit der Arbeitnehmer enthält eine Stillhalteklausel betreffend die Bedingungen für den Zugang zur Beschäftigung für Arbeitnehmer, deren Aufenthalt und Beschäftigung im entsprechenden Hoheitsgebiet ordnungsgemäß sind.

Bis zum 1. September 1993 benötigte nach deutschem Recht das nichtdeutsche fahrende Personal im grenzüberschreitenden Güterverkehr für eine Tätigkeit bei Unternehmen mit Sitz in Deutschland keine Arbeitsgenehmigung. Danach war lediglich das fahrende Personal von Arbeitgebern mit Sitz im Ausland befreit. Seit dem 10. Oktober 1996 gilt die Befreiung von der Arbeitsgenehmigungspflicht u. a. nur noch dann, wenn das Fahrzeug im Niederlassungsstaat des ausländischen Arbeitgebers zugelassen ist.

Herr Abatay und die anderen Kläger sind türkische Staatsangehörige, wohnen in der Türkei und arbeiten als Fahrer im grenzüberschreitenden Güterverkehr. Sie sind bei einer in der Türkei niedergelassenen türkischen Gesellschaft angestellt, die eine Tochtergesellschaft einer in Deutschland niedergelassenen deutschen Gesellschaft ist. Die beiden Gesellschaften importieren mit LKWs, die in Deutschland auf die deutsche Gesellschaft zugelassen sind und u. a. von den Klägern gefahren werden, aus der Türkei Obst und Gemüse nach Deutschland. Die Bundesanstalt für Arbeit hatte jedem dieser Fahrer eine Arbeitserlaubnis bis zum 30. September 1996 ausgestellt. Für die Zeit danach lehnte sie die Erteilung von Arbeitserlaubnissen ab. (Rechtssache C-317/01)

Herr Sahin, ursprünglich türkischer und seit 1991 deutscher Staatsangehöriger, betreibt in Deutschland ein Transportunternehmen, dessen Tochtergesellschaft ihren Sitz in der Türkei hat. Das deutsche Unternehmen ist Eigentümer mehrerer in Deutschland zugelassener LKWs, die es im internationalen Fernverkehr Deutschland/Türkei/Iran/Irak einsetzt. Bereits vor September 1993 beschäftige Herr Sahin in der Türkei wohnende türkische Fahrer, die die in Deutschland zugelassenen LKWs fahren sollten. (Rechtssache C-369/01)

Herr Abatay und seine Kollegen sowie Herr Sahin machen vor den deutschen Gerichten geltend, dass im grenzüberschreitenden Güterverkehr tätige Fernfahrer für Fahrten zwischen der Türkei und Deutschland weiterhin keine deutsche Arbeitsgenehmigung brauchten, und stützen sich dafür auf die Stillhalteklauseln des Zusatzprotokolls von 1972 und des Beschlusses Nr. 1/80. Das Bundessozialgericht hat dem Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften Fragen nach der Auslegung dieser Klauseln vorgelegt.

Nach Ansicht des Gerichtshofes können sich türkische Staatsangehörige in dem betreffenden Mitgliedstaat auf die Stillhalteklauseln des Zusatzprotokolls von 1972 und des Beschlusses Nr. 1/80 berufen, um die Anwendung entgegenstehenden innerstaatlichen Rechts auszuschließen.

Der Gerichtshof stellt nämlich fest, dass diese Bestimmungen klare, präzise und nicht an Bedingungen geknüpfte Verpflichtungen enthalten.

Der Gerichtshof prüft dann die Bedeutung dieser beiden Klauseln und gelangt zu dem Ergebnis, dass sie dieselbe Funktion haben und dasselbe Ziel verfolgen. Sie sollen dadurch günstige Bedingungen für die schrittweise Verwirklichung des Niederlassungsrechts und des freien Dienstleistungsverkehrs sowie der Freizügigkeit der Arbeitnehmer schaffen, dass den innerstaatlichen Stellen verboten wird, neue Hindernisse für diese Grundfreiheiten einzuführen.

Sodann dehnt der Gerichtshof seine frühere Auslegung der entsprechenden Klausel betreffend das Niederlassungsrecht und den freien Dienstleistungsverkehr auf die Stillhalteklausel des Beschlusses Nr. 1/80 aus. Dementsprechend urteilt er, dass die erstgenannte dieser Klauseln es den Mitgliedstaaten verwehrt, türkische Staatsangehörige, deren Aufenthalt in seinem Hoheitsgebiet ordnungsgemäß ist, hinsichtlich des Zugangs zu einer erstmaligen Beschäftigung weniger günstig zu behandeln als bei Inkrafttreten der Stillhalteklausel des Beschlusses Nr. 1/80 (1.12.1980).

Jedoch ist die Stillhalteklausel des Beschlusses Nr. 1/80 in den vorliegenden Rechtssachen nicht anzuwenden, da dieser Beschluss die Integration türkischer Wanderarbeitnehmer in den Mitgliedstaat zum Ziel habe, und zwar durch die Ausübung einer ordnungsgemäßen Beschäftigung von gewisser Dauer.

Der Gerichtshof stellt hierzu fest, dass die betreffenden türkischen Fahrer, obwohl sie sich in Deutschland in einer ordnungsgemäßen Lage befanden, sich im Hoheitsgebiet dieses Staates nicht während hinreichend langer Zeiträume aufhielten, um sich in Deutschland als Aufnahmemitgliedstaat integrieren zu können.

Jedoch können sich ein Unternehmen mit Sitz in der Türkei, das rechtmäßig Dienstleistungen in einem Mitgliedstaat erbringt, sowie bei einem solchen Unternehmen beschäftigte türkische Fernfahrer auf die Stillhalteklausel des Zusatzprotokolls berufen.

Demgegenüber hat der Gerichtshof entschieden, dass sich ein Leistungserbringer gegenüber dem Staat, in dem er ansässig ist, auf das Recht auf freien Dienstleistungsverkehr nur dann berufen kann, wenn die Leistungen an Leistungsempfänger erbracht werden, die in einem anderen Mitgliedstaat ansässig sind. Demzufolge kann sich eine Firma wie das deutsche Unternehmen von Herrn Sahin nicht auf diese Stillhalteklausel berufen, da die Empfänger der betreffenden Dienstleistungen ihren Sitz gleichfalls in Deutschland haben.

Der Gerichtshof stellt schließlich fest, dass die deutsche Regelung von 1996 Beschränkungen des freien Dienstleistungsverkehrs enthält, dass es jedoch Sache des innerstaatlichen Gerichts ist, zu prüfen, ob es sich dabei um neue Beschränkungen handelt.

Wie der Gerichtshof bereits entschieden hat, stellt eine nationale Regelung eine Beschränkung des im EG-Vertrag verankerten Grundsatzes des freien Dienstleistungsverkehrs dann dar, wenn sie die Erbringung von Dienstleistungen durch ein in einem anderen Mitgliedstaat niedergelassenes Unternehmen im Inland von der Erteilung einer behördlichen Erlaubnis wie einer Arbeitserlaubnis abhängig macht. Diese Rechtsprechung ist nach dem Assoziationsabkommen entsprechend anwendbar.

Was die Frage angeht, ob die sich aus der deutschen Regelung ergebenden Beschränkungen neu sind, ist es Sache des deutschen Gerichts, das für die Auslegung nationalen Rechts zuständig ist, zu prüfen, ob die in Rede stehende innerstaatliche Regelung die Situation der Kläger gegenüber dem Zustand, der in Deutschland vor dem Inkrafttreten des Zusatzprotokolls (1.1.1973) gegolten hat, verschlechtert.

Orginaltext des Urteils:

Urteil des Europäischen Gerichtshofes in den Rechtssachen C-317/01 und C-369/01: Abatay und Sahin