Missbrauch durch Verwendung aufeinander folgender befristeter Arbeitsverträge

Es ist unzulässig, als “aufeinander folgend” nur die Verträge anzusehen, die höchstens 20 Tage auseinander liegen
(C-212/04 vom 04.07.2006, Adeneler u.a.)

Der Fall:

Herr Konstaninos Adeneler und 17 weitere Unionsbürger hatten mit dem Griechischen Milchverband jeweils mehrere aufeinander folgende befristete Arbeitsverträge geschlossen. Alle diese Verträge waren für die Dauer von jeweils acht Monaten geschlossen, wobei zwischen den Verträgen unterschiedliche Zeiträume lagen, die von 22 Tagen bis zu 10 Monaten und 26 Tagen reichten. Die Betroffenen wurden jeweils wieder in demselben Arbeitsbereich eingesetzt, für den der ursprüngliche Vertrag geschlossen worden war.
Als die einzelnen Arbeitsverträge schließlich zwischen Juni und September 2003 ausliefen, ohne erneuert zu werden, erhoben Herr Adeneler und seine Kollegen Klage auf Feststellung, dass die Verträge als unbefristete Arbeitsverträge anzusehen seien.

Um Missbrauch zu vermeiden, ist die Verwendung aufeinander folgender befristeter Arbeitsverträge laut Europäischem Gerichtshof nur dann aus sachlichen Gründen gerechtfertigt, wenn konkrete Gesichtspunkte vorliegen, die vor allem mit der betreffenden Tätigkeit und den Bedingungen ihrer Ausübung zusammenhängen. Dies gilt auch für Arbeitgeber des öffentlichen Sektors.

Das Urteil:

1. Paragraf 5 Nummer 1 Buchstabe a der Rahmenvereinbarung über befristete Arbeitsverträge vom 18. März 1999 im Anhang der Richtlinie 1999/70/EG des Rates vom 28. Juni 1999 zu der EGB-UNICE-CEEP-Rahmenvereinbarung über befristete Arbeitsverträge ist dahin auszulegen, dass er der Verwendung aufeinander folgender befristeter Arbeitsverträge entgegensteht, die allein damit gerechtfertigt wird, dass sie in einer allgemeinen Rechtsvorschrift eines Mitgliedstaats vorgesehen ist. Vielmehr verlangt der Begriff „sachliche Gründe" im Sinne des Paragrafen 5, dass der in der nationalen Regelung vorgesehene Rückgriff auf diese besondere Art des Arbeitsverhältnisses durch konkrete Gesichtspunkte gerechtfertigt wird, die vor allem mit der betreffenden Tätigkeit und den Bedingungen ihrer Ausübung zusammenhängen.

2. Paragraf 5 der Rahmenvereinbarung über befristete Arbeitsverträge ist dahin auszulegen, dass er einer nationalen Regelung wie der im Ausgangsverfahren fraglichen entgegensteht, nach der als „aufeinander folgend" im Sinne dieses Paragrafen nur die befristeten Arbeitsverträge und -verhältnisse gelten, die höchstens 20 Werktage auseinander liegen.

3. Unter den im Ausgangsverfahren gegebenen Umständen ist die Rahmenvereinbarung dahin auszulegen, dass sie, sofern das innerstaatliche Recht des betreffenden Mitgliedstaats im betreffenden Sektor keine andere effektive Maßnahme enthält, um den Missbrauch durch aufeinander folgende befristete Arbeitsverträge zu verhindern und gegebenenfalls zu ahnden, der Anwendung einer nationalen Regelung entgegensteht, die nur im öffentlichen Sektor die Umwandlung aufeinander folgender befristeter Arbeitsverträge, die tatsächlich einen "ständigen und dauernden Bedarf" des Arbeitgebers decken sollten und als missbräuchlich anzusehen sind, in einen unbefristeten Vertrag uneingeschränkt verbietet.

4. Die nationalen Gerichte sind bei verspäteter Umsetzung einer Richtlinie in die Rechtsordnung des betreffenden Mitgliedstaats und bei Fehlen unmittelbarer Wirkung ihrer einschlägigen Bestimmungen verpflichtet, das innerstaatliche Recht ab dem Ablauf der Umsetzungsfrist so weit wie möglich im Licht des Wortlauts und des Zweckes der betreffenden Richtlinie auszulegen, um die mit ihr verfolgten Ergebnisse zu erreichen, indem sie die diesem Zweck am besten entsprechende Auslegung der nationalen Rechtsvorschriften wählen und damit zu einer mit den Bestimmungen dieser Richtlinie vereinbaren Lösung gelangen.

Die Pressemitteilung:

Urteil des Europäischen Gerichtshofes in der Rechtssache C-212/04: Konstantinos Adeneler u. a. / Ellinikos Organismos Galaktos (ELOG)

Pressemitteilung des Europäischen Gerichtshofes vom 04. Juli 2006 Nr. 54/06

Der Gerichtshof legt die Rahmenvereinbarung über befristete Arbeitsverträge aus und konsolidiert damit den Schutz der Arbeitnehmer

Die Verwendung aufeinander folgender befristeter Arbeitsverträge muss - auch im öffentlichen Sektor - bestimmte strenge Voraussetzungen erfüllen

Mit der Richtlinie 1999/70 soll die zwischen den allgemeinen branchenübergreifenden Organisationen (EGB, UNICE und CEEP) geschlossene Rahmenvereinbarung über befristete Arbeitsverträge durchgeführt werden.1 Diese Rahmenvereinbarung soll einen Rahmen schaffen, der den Missbrauch durch aufeinander folgende befristete Arbeitsverträge oder -verhältnisse verhindert. Sie sieht vor, dass sachliche Gründe" die Verlängerung aufeinander folgender Arbeitsverträge oder -verhältnisse rechtfertigen können. Sie bestimmt außerdem, dass die Mitgliedstaaten festlegen, unter welchen Bedingungen befristete Beschäftigungsverhältnisse als „aufeinander folgend" zu betrachten sind bzw. als unbefristete Verhältnisse zu gelten haben. Die Frist zur Umsetzung der Richtlinie lief am 10. Juli 2001 ab, mit der Möglichkeit einer Verlängerung um höchstens ein Jahr.

Die Rechtsvorschriften zur Umsetzung der Richtlinie in griechisches Recht wurden im April 2003 verspätet erlassen. Für die im Privatsektor Beschäftigten sehen diese Vorschriften vor, dass die unbegrenzte Verlängerung befristeter Arbeitsverträge rechtmäßig ist, wenn sie durch einen objektiven Grund gerechtfertigt wird, und dass ein solcher objektiver Grund u. a. dann vorliegt, wenn der Abschluss eines befristeten Vertrags durch eine Gesetzes- oder eine Verordnungsvorschrift vorgeschrieben ist. Als „aufeinander folgend" sind nach diesen Vorschriften befristete Arbeitsverträge oder -verhältnisse anzusehen, die zwischen demselben Arbeitgeber und demselben Arbeitnehmer mit gleichen oder ähnlichen Arbeitsbedingungen zustande kommen, und zwischen denen kein längerer Zeitraum als zwanzig Werktage liegt. Die für die im öffentlichen Sektor Beschäftigten geltende Regelung schließt die Möglichkeit der Umwandlung eines befristeten Vertrages in einen unbefristeten Vertrag uneingeschränkt aus.

Herr Adeneler und 17 weitere Kläger hatten mit ELOG, einer dem öffentlichen Sektor zuzurechnenden juristischen Person des Privatrechts mit Sitz in Thessaloniki, jeweils mehrere aufeinander folgende befristete Arbeitsverträge geschlossen, die schließlich ausliefen, ohne erneuert zu werden. Alle diese Verträge waren für die Dauer von jeweils 8 Monaten geschlossen, wobei zwischen den Verträgen unterschiedliche Zeiträume lagen, die von 22 Tagen bis zu 10 Monaten und 26 Tagen reichten. Um feststellen zu lassen, dass diese Verträge als unbefristete Arbeitsverträge anzusehen seien, erhoben die Arbeitnehmer Klage beim Monomeles Protodikeio Thessaloniki, der dem Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften vier Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt hat.

Der Gerichtshof weist darauf hin, dass die Richtlinie 1999/70 und die Rahmenvereinbarung auch auf befristete Arbeitsverträge und -verhältnisse anwendbar sind, die mit Behörden oder anderen Stellen des öffentlichen Sektors geschlossen werden, und stellt fest, dass die Rahmenvereinbarung von der Prämisse ausgeht, dass unbefristete Arbeitsverträge die übliche Form des Beschäftigungsverhältnisses sind. In diesem Sinne soll die Rahmenvereinbarung dem wiederholten Rückgriff auf befristete Arbeitsverträge, der als eine Quelle potenziellen Missbrauchs zu Lasten der Arbeitnehmer gesehen wird, einen Rahmen setzen, indem sie eine Reihe von Mindestschutzbestimmungen vorsieht, die verhindern sollen, dass sich die Lage der Beschäftigten verschlechtert. Nach der Rahmenvereinbarung soll die aus objektiven Gründen erfolgende Inanspruchnahme befristeter Arbeitsverträge helfen Missbrauch zu vermeiden. Hingegen entspricht der Rückgriff auf aufeinander folgende befristete Arbeitsverträge, der allein darauf gestützt wird, dass er in einer allgemeinen Gesetzes- oder Verordnungsbestimmung eines Mitgliedstaates vorgesehen ist, nicht dem Schutzzweck der Rahmenvereinbarung. Der Begriff „sachliche Gründe" setzt voraus, dass konkrete Gesichtspunkte vorliegen, die vor allem mit der betreffenden Tätigkeit und den Bedingungen ihrer Ausübung zusammenhängen.

Der Gerichtshof führt weiter aus, dass es nach der Rahmenvereinbarung zwar den Mitgliedstaaten überlassen ist, zu bestimmen, wann Verträge als aufeinander folgend gelten, dass deren Spielraum jedoch nicht unbegrenzt ist, da er auf keinen Fall so weit reicht, dass das Ziel oder die praktische Wirksamkeit der Rahmenvereinbarung in Frage gestellt wird. Eine nationale Bestimmung, nach der nur solche Arbeitsverträge als „aufeinander folgend" gelten, die höchstens 20 Werktage auseinander liegen, ist geeignet, den Sinn und Zweck sowie die praktische Wirksamkeit der Rahmenvereinbarung zu unterlaufen. Bei einer derart starren und restriktiven Definition besteht nicht nur die Gefahr, dass eine große Zahl befristeter Arbeitsverhältnisse vom Arbeitnehmerschutz nach der Richtlinie und der Rahmenvereinbarung ausgeschlossen werden, sondern auch, dass den Arbeitgebern eine missbräuchliche Inanspruchnahme solcher Verhältnisse ermöglicht wird.

Der Gerichtshof ist ferner der Ansicht, dass die Rahmenvereinbarung der Anwendung einer nationalen Regelung entgegensteht, die nur im öffentlichen Sektor die Umwandlung aufeinander folgender befristeter Arbeitsverträge, die tatsächlich einen ständigen und dauernden Bedarf des Arbeitgebers decken sollten und als missbräuchlich anzusehen sind, in einen unbefristeten Vertrag uneingeschränkt verbietet, sofern das innerstaatliche Recht des betreffenden Mitgliedstaats im betreffenden Sektor keine andere effektive Maßnahme enthält, um den Missbrauch durch aufeinander folgende befristete Arbeitsverträge zu verhindern und gegebenenfalls zu ahnden.

Schließlich weist der Gerichtshof darauf hin, dass die nationalen Gerichte bei verspäteter Umsetzung einer Richtlinie in die Rechtsordnung des betreffenden Mitgliedstaats und bei Fehlen unmittelbarer Wirkung ihrer einschlägigen Bestimmungen verpflichtet sind, das innerstaatliche Recht ab dem Ablauf der Umsetzungspflicht so weit wie möglich im Licht des Wortlauts und des Zweckes der betreffenden Richtlinie auszulegen, um die mit ihr verfolgten Ergebnisse zu erreichen, indem sie die diesem Zweck am besten entsprechende Auslegung der nationalen Rechtsvorschriften wählen und damit zu einer mit den Bestimmungen dieser Richtlinie vereinbaren Lösung gelangen. Die Gerichte der Mitgliedstaaten müssen es jedoch ab dem Zeitpunkt des Inkrafttretens einer Richtlinie soweit wie möglich unterlassen, dass innerstaatliche Recht auf eine Weise auszulegen, die die Erreichung des mit dieser Richtlinie verfolgten Ziels nach Ablauf der Umsetzungsfrist ernsthaft gefährden würde.
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1 ABl. L 175, S. 43.

Originaltext des Urteils:

Urteil des Europäischen Gerichtshofes in der Rechtssache C-212/04: Adeneler