Gewährung einer deutschen Altersrente an türkische Arbeitnehmer

Geburtsdatum maßgebend, das sich aus erster Angabe gegenüber dem Sozialversicherungsträger ergibt
( C-102/98 und C-211/98 vom 14.03.2000, Kocak und Örs)

Der Fall:

Der türkische Staatsbürger Ibrahim Kocak war von April 1962 bis Dezember 1966 in der Bundesrepublik Deutschland, wo er seit Mai 1970 ständig lebt, versicherungspflichtig im Bergbau beschäftigt. Bis zu seinem Eintritt in den Vorruhestand am 1. Oktober 1986 war Herr Kocak als Arbeiter tätig. Seit dem 1. Oktober 1991 bezieht er Sozialhilfe, da sein Vorruhestandsgehalt ausgelaufen war. Als Geburtsdatum hatte er 1962 den 20. Oktober 1933 angegeben, aufgrund eines Urteils eines türkischen Gerichts wurde sein Geburtsdatum in "1926" geändert. Aufgrund des berichtigten Geburtsdatums wurde ihm daraufhin eine neue Versicherungsnummer zugeteilt. Im August 1991 stellte Herr Kocak einen Antrag auf Altersrente wegen Vollendung des 65. Lebensjahres. Die Landesversicherungsanstalt (LVA) lehnte den Antrag jedoch mit der Begründung ab, dass das für die deutsche Rentenversicherung maßgebliche Datum der 20. Oktober 1933 sei; die türkische Gerichtsentscheidung, die das Geburtsdatum korrigiert hatte, werde nicht anerkannt.
Der türkische Staatsbürger Ramazan Örs lebt seit 1972 ebenfalls in Deutschland und ist bei der Bundesknappschaft rentenversichert. Sein Geburtsdatum wurde ebenfalls durch ein türkisches Gerichts berichtigt, und zwar vom 1. Mai 1950 in den 1. Mai 1946. Auch die Bundesknappschaft lehnte es mit Bescheid vom 14. Juni 1993 ab, das Geburtsdatum zu ändern.
In Deutschland ist seit dem 1. Januar 1998 eine Regelung in Kraft getreten, die eine missbräuchliche Inanspruchnahme von Sozialleistungen in den Fällen verhindern soll, in denen aufgrund einer Änderung von Geburtsdaten unter anderem ein früherer Bezug von Sozialleistungen beantragt wird. Nach dieser Regelung ist für die Gewährung einer Altersrente und für die insoweit vergebene Versicherungsnummer dasjenige Geburtsdatum maßgebend, das sich aus der ersten Angabe des Betroffenen gegenüber dem Sozialversicherungsträger ergibt. Ein anderes Geburtsdatum findet nur dann Berücksichtigung, wenn es sich aus einer Urkunde ergibt, deren Original vor dem Zeitpunkt dieser Angabe ausgestellt worden ist.

Laut Europäischem Gerichtshof steht die deutsche Regelung gegen die missbräuchliche Inanspruchnahme von Sozialleistungen dem der Assoziation EWG- Türkei zugrundeliegenden Diskriminierungsverbot und dem Gleichbehandlungsgrundsatz nicht entgegen, da die betreffende Regelung unabhängig von der Staatsangehörigkeit gelte und den türkischen Staatsangehörigen keine andere Rechtsstellung verleihe als deutschen Staatsangehörigen.

Das Urteil:

Artikel 3 Absatz 1 des Beschlusses Nr. 3/80 des Assoziationsrates vom 19. September 1980 über die Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit der Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaften auf die türkischen Arbeitnehmer und auf deren Familienangehörige verwehrt es einem Mitgliedstaat nicht, auf türkische Arbeitnehmer eine Regelung anzuwenden, nach der für die Gewährung einer Altersrente und für die insoweit vergebene Versicherungsnummer dasjenige Geburtsdatum maßgebend ist, das sich aus der ersten Angabe des Betroffenen gegenüber einem Sozialleistungsträger des betreffenden Staates ergibt, und ein anderes Geburtsdatum nur berücksichtigt wird, wenn es sich aus einer Urkunde ergibt, deren Original vor dem Zeitpunkt dieser Angabe ausgestellt worden ist.

Die Pressemitteilung:

Urteil des Europäischen Gerichtshofes in den verbundenen Rechtssachen C-102/98 und C-211/98: 1. Ibrahim Kocak / Landesversicherungsanstalt Oberfranken und Mittelfranken und
2. Ramazan Örs / Bundesknappschaft

Pressemitteilung des Europäischen Gerichtshofes Nr. 13/00 vom 14. März 2000

Für die Gewährung einer deutschen Altersrente an einen türkischen Arbeitnehmer ist das Geburtsdatum maßgebend, das er bei seiner ersten Anmeldung bei einem Sozialleistungsträger angegeben hat.

Der Gerichtshof stellt fest, dass § 33a Sozialgesetzbuch I mit dem im Assoziierungsabkommen EWG-Türkei enthaltenen Diskriminierungsverbot vereinbar ist.

Der Kläger Kocak war von April 1962 bis Dezember 1966 in der Bundesrepublik Deutschland versicherungspflichtig im Bergbau erwerbstätig. Seit Mai 1970 lebt er ständig in der Bundesrepublik; bis zu seinem Eintritt in den Vorruhestand am 1. Oktober 1986 war er als Arbeiter beschäftigt. Nach Auslaufen des Vorruhestandsgeldes bezieht er seit dem 1. Oktober 1991 Sozialhilfe. Als Geburtsdatum, das den ihm zugeteilten Versicherungsnummern zugrunde gelegt wurde, hatte er 1962 den 20. Oktober 1933 angegeben. Aufgrund eines Urteils eines türkischen Zivilgerichts vom 3. Dezember 1985 wurde die Eintragung des Geburtsjahres des Klägers Kocak im türkischen Personenstandsregister in "1926" geändert. Daraufhin erteilte ihm der zuständige Sozialleistungsträger am 14. August 1986 unter Berücksichtigung des so berichtigten Geburtsjahres eine neue Versicherungsnummer. Im August 1991 stellte der Kläger Kocak bei der Landesversicherungsanstalt Oberfranken und Mittelfranken (LVA) einen Antrag auf Altersrente wegen Vollendung des 65. Lebensjahres. Die LVA stellte mit Bescheid vom 17. Februar 1992 fest, dass die türkische Gerichtsentscheidung über die Berichtigung des türkischen Personenstandsregisters hinsichtlich des Geburtsdatums nicht anerkannt werde; das für die deutsche Rentenversicherung maßgebliche Geburtsdatum sei der 20. Oktober 1933. Deshalb erteilte sie dem Kläger Kocak erneut eine auf das Geburtsjahr 1933 gestützte neue Versicherungsnummer. Den Rentenantrag des Klägers Kocak lehnte sie durch Bescheid vom 1. Dezember 1993 ab.

Der Kläger Örs lebt seit 1972 in Deutschland; er ist bei der Bundesknappschaft rentenversichert. Bei seinem Eintritt in diese Versicherung erklärte er, am 1. Mai 1950 geboren zu sein, so daß die Bundesknappschaft ihm eine Versicherungsnummer zuteilte, die dieses Geburtsdatum enthält. Aufgrund eines Urteils eines türkischen Gerichts vom 9. November 1992 wurde das Geburtsdatum des Klägers Örs im türkischen Personenstandsregister in "1. Mai 1946" geändert. Die Bundesknappschaft lehnte den Antrag des Klägers Örs, das Geburtsdatum und die Versicherungsnummer aufgrund dieses Urteils zu ändern, mit Bescheid vom 14. Juni 1993 ab.

In Deutschland ist am 1. Januar 1998 eine Regelung in Kraft getreten, die eine missbräuchliche Inanspruchnahme von Sozialleistungen in Fällen verhindern soll, in denen aufgrund einer Änderung von Geburtsdaten u. a. ein früherer Bezug von Sozialleistungen beantragt wird. Nach dieser Regelung ist für die Gewährung einer Altersrente und für die insoweit vergebene Versicherungsnummer dasjenige Geburtsdatum maßgebend, das sich aus der ersten Angabe des Betroffenen gegenüber einem Sozialleistungsträger ergibt; ein anderes Geburtsdatum wird nur berücksichtigt, wenn es sich aus einer Urkunde ergibt, deren Original vor dem Zeitpunkt dieser Angabe ausgestellt worden ist.

Das Bundessozialgericht, das in letzter Instanz in den Rechtsstreitigkeiten zu entscheiden hat, fragt den Gerichtshof nach der Vereinbarkeit dieser nationalen Regelung mit dem Diskriminierungsverbot und dem Gleichbehandlungsgrundsatz, die der Assoziation EWG -Türkei zugrunde liegen.

Der Gerichtshof antwortet, dass das Assoziationsabkommen es einem Mitgliedstaat nicht verwehre, diese Regelung auf türkische Arbeitnehmer anzuwenden.

Der Gerichtshof sieht in der deutschen Regelung keine Diskriminierung der türkischen Arbeitnehmer. Sie gelte unabhängig von der Staatsangehörigkeit der betroffenen Arbeitnehmer und verleihe den türkischen Staatsangehörigen keine andere Rechtsstellung als den deutschen Staatsangehörigen.

Der Gerichtshof folgt auch nicht den Argumenten, die für das Vorliegen einer mittelbaren Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit sprechen könnten. Das deutsche Gericht hatte nämlich nicht ausgeschlossen, dass die strittige Regelung den erheblichen rechtlichen und tatsächlichen Unterschieden bei der Führung der Personenstandsregister in der Republik Türkei und in der Bundesrepublik Deutschland nicht hinreichend Rechnung trage. Während die ersten Angaben deutscher Staatsangehöriger gegenüber einem Sozialleistungsträger regelmäßig auf sicheren und zuverlässigen Personenstandseintragungen beruhten, hätten die Angaben von in ihrer Heimat geborenen türkischen Arbeitnehmern nicht selten eine wesentlich unsicherere Grundlage und bedürften daher öfter einer nachträglichen Korrektur. Der Gerichtshof führt aus, dass die besonderen Schwierigkeiten, zu denen die strittige deutsche Regelung für türkische Wanderarbeitnehmer führen könne, auf den türkischen Vorschriften über die Führung der Personenstandsregister und den besonderen Bedingungen ihrer praktischen Anwendung beruhten. Auf der Grundlage des im Assoziierungsabkommen verankerten Verbotes der Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit könne jedoch von einem Mitgliedstaat nicht verlangt werden, dass er bei der Regelung der Frage, welches Geburtsdatum für die Erteilung einer Versicherungsnummer und die Gewährung einer Altersrente maßgebend sei, der besonderen Situation Rechnung trage, die sich aus dem Inhalt und der praktischen Anwendung der türkischen Personenstandsbestimmungen ergebe. Die deutsche Regelung enthalte also keine Ungleichbehandlung, die eine mittelbare Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit bilden könne.

Die Frage, ob Personen wie die Kläger aus dem Umstand, dass ihnen vor Inkrafttreten der hier strittigen Regelung eine neue Versicherungsnummer zugeteilt worden ist oder dass sie unter der Geltung früherer, weniger strenger Rechtsvorschriften einen Antrag auf Änderung ihrer Versicherungsnummer gestellt haben, Rechte für die Gewährung ihrer Altersrente herleiten können, sei nach innerstaatlichem Recht zu beurteilen.

Originaltext des Urteils:

Urteil des Europäischen Gerichtshofes in den Rechtssachen C-102/98: Kocak und C-211/98: Örs