Zivilen Kriegsopfern von einem Mitgliedstaat gewährte Leistung

Erfordernis des Wohnsitzes im Hoheitsgebiet dieses Staates zum Zeitpunkt des Leistungsantrags unzulässig
(C-192/05 vom 26.10.2006, Tas-Hagen)

Der Fall:

Frau Tas-Hagen wurde 1943 im ehemaligen Niederländisch-Indien geboren und kam 1954 in die Niederlande. 1961 erwarb sie die niederländische Staatsangehörigkeit.
Nachdem sie arbeitsunfähig geworden und deshalb gezwungen war, ihre berufliche Tätigkeit zu beenden, verzog sie 1987 nach Spanien.
1999 stellte Frau Tas-Hagen nach dem niederländischen Gesetz über Leistungen an zivile Opfer des Krieges 1940-1945 (WUBO) einen Antrag auf Bewilligung einer regelmäßig wiederkehrenden Leistung und eines Zuschusses für Maßnahmen zur Verbesserung ihrer Lebensumstände. Sie stützte diesen Antrag auf gesundheitliche Beschwerden infolge der Ereignisse, die ihr in Niederländisch-Indien während der japanischen Besetzung und der darauf folgenden so genannten Bersiap-Periode widerfahren waren.
Der Antrag wurde abgelehnt, weil Frau Tas-Hagen zum Zeitpunkt ihrer Antragstellung ihren Wohnsitz nicht, wie vom WUBO vorausgesetzt, in den Niederlanden hatte, sondern in Spanien ansässig war.

Laut Europäischem Gerichtshof könnten die vom EG-Vertrag eröffneten Erleichterungen der Freizügigkeit ihre volle Wirkung nicht entfalten, wenn ein Staatsangehöriger eines Mitgliedstaats von ihrer Wahrnehmung durch Hindernisse abgehalten werden könnte, die seinem Aufenthalt im Aufnahmemitgliedstaat infolge einer Regelung seines Herkunftsstaats entgegenstehen, die Nachteile daran knüpft, dass er von diesen Erleichterungen Gebrauch gemacht hat.
Eine nationale Regelung, die bestimmte Staatsangehörige allein deswegen benachteiligt, weil sie von ihrer Freiheit, sich in einen anderen Mitgliedstaat zu begeben und sich dort aufzuhalten, Gebrauch gemacht haben, stellt eine Beschränkungen der Freiheiten dar, die Artikel 18 Absatz 1 EG jedem Unionsbürger verleiht.
Die WUBO stellt eine solche Beschränkung dar. Da sie die Inanspruchnahme der zugunsten ziviler Kriegsopfer eingeführten Leistung davon abhängig macht, dass die Betroffenen ihren Wohnsitz zum Zeitpunkt der Einreichung ihres Antrags im Inland haben, kann dieses Gesetz niederländische Staatsangehörige, die sich in der Situation wie der von Frau Tas-Hagen befinden, davon abhalten, von ihrer Freiheit, sich außerhalb der Niederlande frei zu bewegen und aufzuhalten, Gebrauch zu machen.
Eine solche Beschränkung lässt sich nach Gemeinschaftsrecht nur rechtfertigen, wenn sie auf objektiven, von der Staatsangehörigkeit der Betroffenen unabhängigen Erwägungen des Allgemeininteresses beruht, die in einem angemessenen Verhältnis zu dem mit dem nationalen Recht legitimerweise verfolgten Zweck stehen.
Zwar kann der Zweck einer Beschränkung der Solidaritätsverpflichtung auf nur die Personen, die während des Krieges oder danach eine Verbindung zu dem Volk des betreffenden Staates hatten, und die durch ein Wohnsitzerfordernis bewirkt wird, das als Äußerung des Grades der Verbundenheit dieser Personen mit dieser Gesellschaft anzusehen ist, eine objektive Erwägung des Allgemeininteresses darstellen, die eine Beschränkung der Freiheiten, die Artikel 18 Absatz 1 EG jedem Unionsbürger verleiht, rechtfertigt.
Jedoch ist die Festlegung eines Wohnsitzkriteriums, das ausschließlich auf den Zeitpunkt der Einreichung des Leistungsantrags abstellt, kein Kriterium, das den Grad der Verbundenheit des Antragstellers mit der Gesellschaft, die sich ihm auf diese Weise solidarisch zeigt, hinreichend ausweist, und wahrt daher nicht den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit.

Das Urteil:

Artikel 18 Absatz 1 EG ist dahin auszulegen, dass er einer Regelung eines Mitgliedstaats entgegensteht, nach der dieser einem seiner Staatsangehörigen die Bewilligung einer Leistung für zivile Kriegsopfer ausschließlich deshalb verweigert, weil der Betroffene zum Zeitpunkt der Antragstellung nicht im Hoheitsgebiet dieses Staates, sondern in dem eines anderen Mitgliedstaats wohnte.

Originaltext des Urteils:

Urteil des Europäischen Gerichtshofes in der Rechtssache C-192/05: Tas-Hagen