Anspruch auf Studienfinanzierung nach Arbeit “auf Abruf”

Auch Gelegenheitsarbeiter können grundsätzlich Arbeitnehmer im Sinne des Gemeinschaftsrechts sein
(C-357/89 vom 26.02.1992, Raulin)

Der Fall:

Die französische Staatsangehörige Frau V. J. M. Raulin ließ sich Ende 1985 in den Niederlanden nieder, ohne sich bei den Ausländerbehörden zu melden und ohne eine Aufenthaltserlaubnis zu erhalten. Im März 1986 schloss sie für die Zeit vom 5. März bis 3. November 1986 einen Vertrag als Arbeitskraft "auf Abruf", in dessen Rahmen sie in der Zeit vom 5. bis 21. März 1986 60 Arbeitsstunden als Serviererin leistete. Am 1. August nahm Frau Raulin das Studium der Bildenden Kunst in Amsterdam auf. Am 5. Dezember 1986 stellte sie beim niederländischen Minister für Unterricht und Wissenschaften einen Antrag auf Studienfinanzierung nach dem niederländischen Gesetz über die Studienfinanzierung vom 24. April 1986. Ihr Antrag wurde für die Zeit von Oktober 1986 bis Dezember 1987 unter anderem mit der Begründung abgelehnt, dass sie nach dem niederländischen Gesetz über die Studienfinanzierung einem niederländischen Staatsangehörigen nicht gleichgestellt werden könne, da sie über keine Aufenthaltsgenehmigung verfüge.
Frau Raulin vertrat jedoch die Ansicht, dass ihr Arbeitsvertrag ihr die Rechtstellung eines Arbeitnehmers im Sinne des Gemeinschaftsrechts einräume und dass sie folglich aufgrund der Gleichstellung von EU- ausländischen mit inländischen Arbeitnehmern hinsichtlich sozialer Vergünstigungen Anspruch auf eine Beihilfe zu den Studienkosten und zum Lebensunterhalt habe. Zumindest habe sie aufgrund des im Gemeinschaftsrechts niedergelegten allgemeinen Verbots jeder Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit Anspruch auf den Teil der Beihilfe, der den Einschreibegebühren entspreche.

Laut Europäischem Gerichtshof verbieten die Beschäftigungsbedingungen im Rahmen eines Vertrages über Gelegenheitsarbeit es grundsätzlich nicht, den betreffenden Beschäftigten als Arbeitnehmer im Sinne des Gemeinschaftsrechts anzusehen. Jedoch sind die nationalen Gerichte berechtigt, bei der Beurteilung von Arbeit "auf Abruf" die Unregelmäßigkeit und die beschränkte Dauer der im Rahmen eines Vertrages über Gelegenheitsarbeit tatsächlich erbrachten Leistungen zu berücksichtigen.
Wenn Frau Raulin die Rechtsstellung eines Arbeitnehmers nicht erworben hätte, könnte sie zumindest den Teil der Studienfinanzierung beanspruchen, der die Einschreibegebühr oder andere für den Zugang zum Unterricht verlangte Gebühren decken soll. Der Besitz einer Aufenthaltserlaubnis ist nicht erforderlich.

Das Urteil:

1. Die Beschäftigungsbedingungen eines Arbeitnehmers mit einem "opröpcontract" verbieten es nicht, ihn als Arbeitnehmer im Sinne von Artikel 48 EWG-Vertrag1 zu betrachten.

2. Die Dauer der von dem Betroffenen verrichteten Tätigkeiten ist ein Gesichtspunkt, den das innerstaatliche Gericht bei der Beurteilung der Frage berücksichtigen kann, ob es sich hierbei um tatsächliche und echte Tätigkeiten handelt oder ob sie vielmehr einen so geringen Umfang haben, dass sie nur unwesentlich und untergeordnet sind.

3. Bei der Beurteilung der Arbeitnehmereigenschaft sind alle Berufstätigkeiten zu berücksichtigen, die der Betroffene im Hoheitsgebiet des Aufnahmemitgliedstaats verrichtet hat, nicht aber Tätigkeiten, die er anderswo in der Gemeinschaft ausgeübt hat.

4. Ein Wanderarbeitnehmer, der seine Beschäftigung aufgibt und ein Studium auf Vollzeitbasis aufnimmt, das nicht im Zusammenhang mit seiner früheren Berufstätigkeit steht, behält seine Rechtsstellung als Wanderarbeitnehmer im Sinne von Artikel 48 EWG-Vertrag1 nicht, es sei denn, es handelt sich um einen Wanderarbeitnehmer, der unfreiwillig arbeitslos geworden ist.

5. Artikel 7 Absatz 1 EWG-Vertrag2 gilt für eine finanzielle Förderung, die ein Mitgliedstaat seinen eigenen Staatsangehörigen zur Durchführung einer Berufsausbildung gewährt, insoweit, als diese Förderung die Kosten des Zugangs zu dieser Ausbildung decken soll.

6. Ein Staatsangehöriger eines Mitgliedstaats, der zu einer Berufsausbildung in einem anderen Mitgliedstaat zugelassen worden ist, hat nach Gemeinschaftsrecht ein Recht auf Aufenthalt in diesem zweiten Mitgliedstaat, um diese Ausbildung absolvieren zu können, und zwar für die Dauer dieser Ausbildung. Dieses Recht kann unabhängig von der Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis durch den Aufnahmemitgliedstaat ausgeübt werden. Das Aufenthaltsrecht kann jedoch an bestimmte Voraussetzungen geknüpft werden, für die das Verbot der Diskriminierung beim Zugang zur Berufsausbildung nicht gilt.

7. Artikel 7 EWG-Vertrag2 verbietet es, dass ein Mitgliedstaat von einem Studenten, der Staatsangehöriger eines anderen Mitgliedstaats ist und dem nach Gemeinschaftsrecht ein Recht auf Aufenthalt im Aufnahmemitgliedstaat zusteht, als Voraussetzung für den Anspruch auf Studienfinanzierung den Besitz einer Aufenthaltserlaubnis verlangt.
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1 Jetzt Art. 39 EG.
2 Jetzt Art. 12 EG.

Originaltext des Urteils:

Urteil des Europäischen Gerichtshofes in der Rechtssache C-357/89: Raulin