Ausweisung auf Lebenszeit

Nicht automatisch zulässig bei Verurteilung wegen Beschaffung und Besitzes ausschließlich zum Eigenverbrauch bestimmter Betäubungsmittel
(C-348/96 vom 19.01.1996, Calfa)

Der Fall:

Während eines Urlaubs auf Kreta wurde gegen die italienische Staatsanghörige Donatella Calfa Anklage wegen Besitzes und Verbrauches zum eigenen Bedarf bestimmter Betäubungsmittel erhoben. Daraufhin folgte 1995 die Verurteilung zu einer dreimonatigen Freiheitsstrafe und eine Ausweisung aus Griechenland auf Lebenszeit. Nach dem griechischem Betäubungsmittelgesetz war eine solche Ausweisungsverfügung, abgesehen von einigen, insbesondere familienbezogenen Ausnahmen, zwangsläufige Folge einer Verurteilung wegen Verstoßes gegen dieses Gesetz durch einen Ausländer.

Der Europäische Gerichtshof wies darauf hin, dass für eine derartige Maßnahme ausschließlich das persönliche Verhalten der in Betracht kommenden Einzelperson ausschlaggebend sein dürfe, das eine tatsächliche Gefährdung der öffentlichen Ordnung darstelle. Die bloße Tatsache einer strafrechtlichen Verurteilung reiche nicht aus.

Das Urteil:

Die Artikel 481, 522 und 593 EG-Vertrag sowie Artikel 3 der Richtlinie 64/221/EWG des Rates vom 25. Februar 1964 zur Koordinierung der Sondervorschriften für die Einreise und den Aufenthalt von Ausländern, soweit sie aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit oder Gesundheit gerechtfertigt sind4, stehen einer Regelung entgegen, die dem nationalen Gericht -- abgesehen von einigen insbesondere familienbezogenen Ausnahmen -- vorschreibt, Staatsangehörige anderer Mitgliedstaaten, die für schuldig befunden worden sind, Straftaten der Beschaffung und des Besitzes von ausschließlich zum Eigenverbrauch bestimmten Betäubungsmitteln begangen zu haben, auf Lebenszeit auszuweisen.
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1 Jetzt Artikel 39 EG.
2 Jetzt Artikel 43 EG.
3 Jetzt Artikel 59 EG.
4 Jetzt Artikel 27 der Richtlinie 2004/38/EG. (Mit Ablauf der Umsetzungsfrist der Richtlinie 2004/38/EG am 30. April 2006 ist die Richtlinie 64/221/EWG gegenstandslos geworden.)

Die Pressemitteilung:

Urteil des Europäischen Gerichtshofes in der Rechtssache C-348/96:
Strafverfahren gegen Donatella Calfa

Pressemitteilung des Europäischen Gerichtshofes Nr. 1/99 vom 19. Januar 1999

Der Gerichtshof stellt fest, dass eine strafrechtliche Sanktion, die vorsieht, dass wegen eines Verstoßes gegen das Gesetz über Betäubungsmittel für schuldig befundene Staatsangehörige anderer Mitgliedstaaten automatisch auf Lebenszeit ausgewiesen werden, eine nicht aus Gründen der öffentlichen Ordnung zu rechtfertigende Behinderung der Dienstleistungsfreiheit und der anderen durch den EG-Vertrag garantierten Grundfreiheiten darstellt.

Gegen Donatella Calfa, eine italienische Staatsangehörige, wurde während eines Aufenthalts als Touristin auf Kreta beim Plimmeleiodikeio Heraklion Anklage wegen Besitzes und Verbrauches zum eigenen Bedarf bestimmter Betäubungsmittel erhoben. Sie wurde für schuldig erklärt, gegen das Betäubungsmittelgesetz verstoßen zu haben, und zu einer Freiheitsstrafe von drei Monaten verurteilt und auf Lebenszeit aus Griechenland ausgewiesen.

Das griechische Betäubungsmittelgesetz sieht nämlich vor, dass das Gericht, das einen Ausländer wegen Verstoßes gegen dieses Gesetz verurteilt hat, ihn auf Lebenszeit auszuweisen hat, wenn dem keine wichtigen, insbesondere familiären Gründe entgegenstehen. Diese Entscheidung kann erst nach Ablauf von drei Jahren durch eine Ermessensentscheidung des Justizministers aufgehoben werden. Griechische Staatsangehörige können demgegenüber nicht auf Lebenszeit ausgewiesen werden. Werden sie jedoch zu einer Freiheitsstrafe von mindestens fünf Jahren verurteilt, kann ihnen der Aufenthalt in bestimmten Teilen des Hoheitsgebiets für bis zu fünf Jahre verboten werden.

Der Areios Pagos, bei dem Frau Calfa Kassationsbeschwerde einlegte, hat den Gerichtshof gefragt, ob das betreffende griechische Gesetz mit den Vorschriften des EG-Vertrags über die Dienstleistungsfreiheit vereinbar ist.

Der Gerichtshof weist darauf hin, dass der Grundsatz des freien Dienstleistungsverkehrs die Freiheit eines Touristen einschließt, sich ohne Behinderung zur Inanspruchnahme einer Dienstleistung in einen anderen Mitgliedstaat zu begeben. Außerdem sind für das Strafrecht zwar grundsätzlich die Mitgliedstaaten zuständig, aber es darf nicht die durch das Gemeinschaftsrecht garantierten Grundfreiheiten beschränken.

Der Gerichtshof stellt fest, dass die vom griechischen Gesetz vorgesehene Ausweisung von Ausländern auf Lebenszeit offensichtlich eine Behinderung der Dienstleistungsfreiheit und anderer durch den EG-Vertrag garantierter Grundfreiheiten darstellt.

Der Gerichtshof prüft daher, ob eine derartige Sanktion aus Gründen der öffentlichen Ordnung gerechtfertigt ist, was voraussetzt, dass «eine tatsächliche und hinreichend schwere Gefährdung vorliegt, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt». Er stellt fest, dass ein Mitgliedstaat z. B. den Verbrauch von Betäubungsmitteln als eine Gefährdung der Gesellschaft ansehen kann, die besondere Maßnahmen gegen Ausländer rechtfertigt.

Die Ausnahme der öffentlichen Ordnung ist jedoch, so der Gerichtshof weiter, wie alle Ausnahmen von einem Grundprinzip des Vertrages eng auszulegen. Die Gemeinschaftsrichtlinie über Sondervorschriften für die Einreise und den Aufenthalt von Ausländern beschränkt ausdrücklich das Recht der Mitgliedstaaten, Ausländer aus Gründen der öffentlichen Ordnung auszuweisen. So darf für solche Maßnahmen ausschließlich das persönliche Verhalten der in Betracht kommenden Einzelperson ausschlaggebend sein, das eine tatsächliche Gefährdung der öffentlichen Ordnung darstellt. Die bloße Tatsache einer strafrechtlichen Verurteilung reicht nicht aus.

Der Gerichtshof stellt fest, dass die nach der griechischen Gesetzgebung vorgesehene Ausweisung auf Lebenszeit aufgrund einer strafrechtlichen Verurteilung automatisch verfügt wird, ohne dass das persönliche Verhalten des Täters oder die Gefährdung der öffentlichen Ordnung berücksichtigt wird.

Der Gerichtshof kommt zu dem Ergebnis, dass eine Regelung wie die fragliche griechische Regelung die Dienstleistungsfreiheit, die Freizügigkeit und die Niederlassungsfreiheit behindert und nicht aus Gründen der öffentlichen Ordnung gerechtfertigt sein kann.

Originaltext des Urteils:

Urteil des Europäischen Gerichtshofes in der Rechtssache C-348/96: Calfa