Haftung der Mitgliedstaaten für Schäden, die durch Verstoß gegen Gemeinschaftsrecht entstanden sind

Ein einem letztinstanzlichen Gericht zuzurechnender Verstoß muss offenkundig sein
(C - 224/01 vom 30.09.2003, Köbler)

Der Fall:

Gerhard Köbler wurde 1996 die Gewährung der besonderen Dienstalterszulage für Universitätsprofessoren nach österreichischem Recht verwehrt, weil er keine fünfzehnjährige Dienstzeit ausschließlich an österreichischen Universitäten aufzuweisen hatte. In seiner dagegen gerichteten Beschwerde machte er geltend, dass die Nichtberücksichtigung seiner Tätigkeiten in anderen Mitgliedstaaten gegen das gemeinschaftsrechtliche Diskriminierungsverbot verstoße. Hierzu befragte der österreichische Verwaltungsgerichtshof den Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften. Nachdem dessen Kanzler auf eine Entscheidung in einem ähnlichen Fall verwiesen hatte, zog der Verwaltungsgerichtshof sein Vorabentscheidungsersuchen zurück und wies die Beschwerde von Herrn Köbler mit der Begründung ab, die besondere Dienstalterszulage stelle eine Treueprämie dar, die eine Abweichung von den Bestimmungen über die Arbeitnehmerfreizügigkeit rechtfertige. Dies hatte zur Folge, dass Herr Köbler eine Schadensersatzklage gegen die Republik Österreich erhob.

Laut Europäischem Gerichtshof stellt zwar das Erfordernis einer fünfzehnjährigen, ausschließlich an österreichischen Universitäten erworbenen Berufserfahrung eine verbotene Behinderung des Freizügigkeitsrechts der Arbeitnehmer dar. Jedoch liege in der irrigen Auslegung des vom Gerichtshof angeführten Urteils kein offenkundiger Verstoß gegen das Gemeinschaftsrecht, da das Urteil keine klare Auskunft über eine etwaige Rechtfertigung einer Treueprämie enthalten habe.

Das Urteil:

1. Der Grundsatz, dass die Mitgliedstaaten zum Ersatz von Schäden verpflichtet sind, die einem Einzelnen durch ihnen zuzurechnende Verstöße gegen das Gemeinschaftsrecht entstehen, ist auch dann anwendbar, wenn der fragliche Verstoß in einer Entscheidung eines letztinstanzlichen Gerichts besteht, sofern die verletzte Gemeinschaftsrechtsnorm bezweckt, dem Einzelnen Rechte zu verleihen, der Verstoß hinreichend qualifiziert ist und zwischen diesem Verstoß und dem dem Einzelnen entstandenen Schaden ein unmittelbarer Kausalzusammenhang besteht. Bei der Entscheidung darüber, ob der Verstoß hinreichend qualifiziert ist, muss das zuständige nationale Gericht, wenn sich der Verstoß aus einer letztinstanzlichen Gerichtsentscheidung ergibt, unter Berücksichtigung der Besonderheit der richterlichen Funktion prüfen, ob dieser Verstoß offenkundig ist. Es ist Sache der Rechtsordnung der einzelnen Mitgliedstaaten, zu bestimmen, welches Gericht für die Entscheidung von Rechtsstreitigkeiten über diesen Schadensersatz zuständig ist.

2. Die Artikel 48 EG-Vertrag (nach Änderung jetzt Artikel 39 EG) und 7 Absatz 1 der Verordnung (EWG) Nr. 1612/68 des Rates vom 15. Oktober 1968 über die Freizügigkeit der Arbeitnehmer innerhalb der Gemeinschaft sind dahin auszulegen, dass sie untersagen, eine besondere Dienstalterszulage, die nach der vom österreichischen Verwaltungsgerichtshof in seinem Urteil vom 24. Juni 1998 vertretenen Auslegung eine Treueprämie darstellt, nach Maßgabe einer Bestimmung wie des § 50a des Gehaltsgesetzes 1956 in der Fassung von 1997 zu gewähren.

3. Ein Verstoß gegen das Gemeinschaftsrecht, wie er sich unter den Umständen des Ausgangsverfahrens aus dem Urteil des Verwaltungsgerichtshofs vom 24. Juni 1998 ergibt, ist nicht offenkundig, wie es nach Gemeinschaftsrecht Voraussetzung der Haftung eines Mitgliedstaats für eine Entscheidung eines seiner letztinstanzlichen Gerichte ist.

Die Pressemitteilung:

Urteil des Europäischen Gerichtshofes in der Rechtssache C-224/01:Gerhard Köbler/Republik Österreich

Pressemitteilung des Europäischen Gerichtshofes Nr. 79/03 vom 30. September 2003

Mitgliedstaaten haften für Schäden, die einem Einzelnen durch einen einem letztinstanzlichen Gericht zuzurechnenden Verstoß gegen das Gemeinschaftsrecht entstanden sind, wenn der Verstoß offenkundig ist.

Die Entscheidung des Verwaltungsgerichtshofs, mit der die Beschwerde von Herrn Köbler abgewiesen worden ist, stellt keinen offenkundigen Verstoß gegen Gemeinschaftsrecht dar und begründet daher nicht die Haftung des österreichischen Staates.

Herr Köbler ist seit dem 1. März 1986 als ordentlicher Universitätsprofessor an der Universität Innsbruck (Österreich) tätig. 1996 beantragte er die Zuerkennung der besonderen Dienstalterszulage für Universitätsprofessoren. Die Gewährung dieser Zulage erfordert nach österreichischem Recht eine fünfzehnjährige, ausschließlich an österreichischen Universitäten erworbene Berufserfahrung. Herr Köbler konnte diese fünfzehnjährige Berufserfahrung belegen, wenn die an Universitäten anderer Mitgliedstaaten zurückgelegten Dienstzeiten berücksichtigt würden.

Im Anschluss an die Ablehnung seines Antrags legte Herr Köbler bei einem österreichischen Verwaltungsgericht Beschwerde ein und machte geltend, dass ein solches Erfordernis eine mittelbare Diskriminierung darstelle, die gegen das Gemeinschaftsrecht verstoße.

Diese Frage machte der Verwaltungsgerichtshof )- das letztinstanzlich entscheidende Verwaltungsgericht -) beim Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften anhängig. Im Anschluss an ein Urteil des Gerichtshofes in einer ähnlichen Rechtssache nahm das österreichische Gericht sein Vorabentscheidungsersuchen zurück. Mit Urteil vom 24. Juni 1998 wies der Verwaltungsgerichtshof die Beschwerde von Herrn Köbler mit der Begründung ab, die besondere Dienstalterszulage stelle eine Treueprämie dar, die eine Abweichung von den Bestimmungen über die Freizügigkeit der Arbeitnehmer rechtfertige.

Herr Köbler erhob beim Landesgericht für Zivilrechtssachen Wien Schadensersatzklage gegen die Republik Österreich mit der Begründung, dass das Urteil des Verwaltungsgerichtshofs gegen Gemeinschaftsrecht verstoße. Hierzu hat das vorlegende Gericht dem Gerichtshof Fragen gestellt.

Die Mitgliedstaaten sind zum Ersatz der Schäden verpflichtet, die den Einzelnen durch den nationalen letztinstanzlichen Gerichten zuzurechnende Verstöße gegen das Gemeinschaftsrecht entstehen.

Der Gerichtshof weist zunächst darauf hin, dass er bereits entschieden habe, dass die Mitgliedstaaten nach dem Wesen des EG-Vertrags zum Ersatz von Schäden verpflichtet seien, die dem Einzelnen durch dem Staat zuzurechnende Verstöße gegen das Gemeinschaftsrecht entstünden, unabhängig davon, welches mitgliedstaatliche Organ den Verstoß begangen habe.

Die entscheidende Rolle, die die Judikative beim Schutz der dem Einzelnen aufgrund des Gemeinschaftsrechts zustehenden Rechte spiele, würde nämlich gemindert, wenn der Einzelne nicht unter bestimmten Voraussetzungen Ersatz der Schäden verlangen könnte, die durch einen Verstoß gegen das Gemeinschaftsrecht entstünden, der einem letztinstanzlichen Gericht eines Mitgliedstaats zuzurechnen sei. In diesem Fall müsse der Einzelne den Staat haftbar machen können, um einen gerichtlichen Schutz seiner Rechte zu erlangen.

In ständiger Rechtsprechung hat der Gerichtshof drei Voraussetzungen aufgestellt, die erforderlich und ausreichend seien, um die Haftung des Staates für ihm zuzurechnende Verstöße gegen das Gemeinschaftsrecht zu begründen. Diese Voraussetzungen gälten auch, wenn ein nationales letztinstanzliches Gericht eine Gemeinschaftsrechtsnorm verletze:

1. Die verletzte Rechtsnorm bezwecke, dem Einzelnen Rechte zu verleihen,
2. der Verstoß sei hinreichend qualifiziert, und
3. zwischen dem Verstoß gegen die dem Staat obliegende Verpflichtung und dem entstandenen Schaden bestehe ein Kausalzusammenhang.

Bei der Entscheidung darüber, ob der Verstoß hinreichend qualifiziert sei, müsse das zuständige nationale Gericht, wenn sich der Verstoß aus der Entscheidung eines nationalen letztinstanzlichen Gerichts ergebe, in Anbetracht der Besonderheit der richterlichen Funktion prüfen, ob dieses Gericht offenkundig gegen das geltende Recht verstoßen habe. Der Staat hafte nur in dem Ausnahmefall, dass das nationale Gericht das geltende Recht und die einschlägige Rechtsprechung des Gerichtshofes offenkundig verkannt habe.

Es sei Sache der einzelnen Mitgliedstaaten nach ihren internen Rechtsordnungen zu bestimmen, welches Gericht für die Entscheidung von Rechtsstreitigkeiten über diesen Anspruch zuständig sei.

Die österreichischen Rechtsvorschriften über die Zuerkennung der besonderen Dienstalterszulage für Universitätsprofessoren verstößt gegen Gemeinschaftsrecht und kann nicht gerechtfertigt werden.

Der Gerichtshof stellt fest, dass das österreichische Gesetz, das für die Gewährung der besonderen Zulage für Universitätsprofessoren eine fünfzehnjährige, ausschließlich an österreichischen Universitäten erworbene Berufserfahrung verlange, eine nach dem EG-Vertrag verbotene Behinderung der Freizügigkeit der Arbeitnehmer darstelle.

Der Gerichtshof führt zum ersten Mal aus, dass das Ziel der Bindung der Arbeitnehmer an ihre Arbeitgeber (Treueprämie) zwar grundsätzlich durch Gründe des Allgemeininteresses gerechtfertigt werden könne, dass die österreichische Maßnahme jedoch Beeinträchtigungen verursache, die nicht mit diesem Ziel gerechtfertigt werden könnten. Sie führe nämlich zu einer Abschottung des Arbeitsmarkts für Universitätsprofessoren in Österreich und widerspreche dem Wesen der Freizügigkeit der Arbeitnehmer.

Nach Ansicht des Gerichtshofes hat das österreichische letztinstanzliche Gericht keinen offenkundigen und damit keinen hinreichend qualifizierten Verstoß gegen das Gemeinschaftsrecht begangen, so dass der österreichische Staat nicht hafte.

Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofes prüften grundsätzlich die nationalen Gerichte, ob die Kriterien für die Haftung der Mitgliedstaaten für Schäden, die Einzelnen durch Verstöße gegen das Gemeinschaftsrecht entstanden seien, erfüllt seien. In dieser Rechtssache verfüge der Gerichtshof jedoch über alle Angaben, um die erforderlichen Voraussetzungen zu prüfen.

Nach Ansicht des Gerichtshofes beruht das Urteil des Verwaltungsgerichtshofs vom 24. Juni 1998 auf einer irrigen Auslegung des Urteils Schöning-Kogebetepoulou und stellt einen Verstoß gegen das Gemeinschaftsrecht dar. Der Gerichtshof stellt jedoch fest, dass der Verstoß an sich nicht als offenkundig eingestuft werden könne.

Der Gerichtshof weist nämlich darauf hin, dass er sich noch nicht zu einer etwaigen Rechtfertigung einer Maßnahme zur Bindung eines Arbeitnehmers an seinen Arbeitgeber (Treueprämie) im Hinblick auf das Gemeinschaftsrecht geäußert habe. Demnach habe die Antwort nicht auf der Hand gelegen.

Zum anderen könne eine solche Einstufung auch nicht darauf gestützt werden, dass der Verwaltungsgerichtshof sein Vorabentscheidungsersuchen hätte aufrechterhalten müssen. Aufgrund seiner irrigen Auslegung des Urteils des Gerichtshofes habe er es nicht für erforderlich gehalten, sein Vorabentscheidungsersuchen aufrechtzuerhalten.

Originaltext des Urteils:

Urteil des Europäischen Gerichtshofes in der Rechtssache C-224/01: Köbler