Anrechnung von Kindererziehungszeiten auf die Altersversicherung

Zeiten, die in einem anderen Mitgliedstaat zurückgelegt wurden, müssen anerkannt werden
(C - 28/00 vom 07.02.2002, Kauer)

Der Fall:

Die österreichische Staatsbürgerin Liselotte Kauer arbeitete von Juli 1960 bis August 1964 in Österreich. Zwischen 1966 und 1969 wurde sie Mutter von drei Kindern. Im April 1970 zog sie mit ihrer Familie nach Belgien, wo sie keiner Erwerbstätigkeit nachging. Zurück in Österreich, war sie wieder erwerbstätig und legte ab September 1975 Versicherungszeiten in der Pflichtversicherung zurück.
Als sie 1998 einen Antrag auf Feststellung ihrer Versicherungszeiten in der Altersversicherung stellte, wurden diejenigen Zeiten nicht als Ersatzzeiten für Kindererziehung anerkannt, in denen sie ihre Kinder in Belgien erzogen hatte. Denn nach österreichischem Sozialversicherungsrecht sind Kinderziehungszeiten, die in einem anderen Mitgliedstaat der EU zurückgelegt wurden, nur dann anzurechnen, wenn sie nach dem Inkrafttreten der Gemeinschaftsverordnung über die soziale Sicherheit der Wanderarbeitnehmer, also nach dem 1. Januar 1994, in Österreich zurückgelegt wurden und der Antragsteller Anspruch auf eine Geldleistung aus dem Versicherungsfall der Mutterschaft oder entsprechende Leistungen nach österreichischem Bundesrecht hat oder hatte.

Laut Europäischem Gerichtshof liegt darin ein Verstoß gegen europäisches Recht. Eine Nichtberücksichtung von Kindererziehungszeiten, die nach dem Inkrafttreten der erwähnten Gemeinschaftsverordnung zurückgelegt worden seien, würde den in dieser Verordnung vorgesehenen Übergangsbestimmungen die praktische Wirksamkeit nehmen. Außerdem käme es zu einer Ungleichbehandlung von Gemeinschaftsbürgern, die von ihrem Recht auf Freizügigkeit Gebrauch machten, da die im Inland zurückgelegten Erziehungszeiten ohne weiteres angerechnet werden.

Das Urteil:

Artikel 94 Absatz 2 der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 des Rates vom 14. Juni 1971 über die Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und Selbstständige sowie deren Familienangehörige, die innerhalb der Gemeinschaft zu- und abwandern, in der durch die Verordnung (EG) Nr. 118/97 des Rates vom 2. Dezember 1996 geänderten und aktualisierten Fassung in Verbindung - je nach Fallgestaltung - mit den Artikeln 8a, 48 bzw. 52 EG-Vertrag (nach Änderung jetzt Artikel 18 EG, 39 EG und 43 EG) ist dahin auszulegen, dass er einer Regelung eines Mitgliedstaats entgegensteht, wonach Kindererziehungszeiten, die in einem anderen Vertragsstaat des Abkommens über den Europäischen Wirtschaftsraum vom 2. Mai 1992 oder einem anderen Mitgliedstaat der Europäischen Union zurückgelegt wurden, nur unter der zweifachen Voraussetzung als Ersatzzeiten für die Altersversicherung gelten,

- dass sie nach dem Inkrafttreten dieser Verordnung im erstgenannten Staat zurückgelegt wurden und

- dass der Antragsteller für die betreffenden Kinder Anspruch auf eine Geldleistung aus dem Versicherungsfall der Mutterschaft oder entsprechende Leistungen nach dem Recht des genannten Staates hat oder hatte,

während diese Zeiten, wenn sie im Inland zurückgelegt wurden, ohne zeitliche Begrenzung oder sonstige Voraussetzung als Ersatzzeiten für die Altersversicherung gelten.

Die Pressemitteilung:

Urteil des Europäischen Gerichtshofes in der Rechtssache C-28/00: Liselotte Kauer / Pensionsversicherungsanstalt der Angestellten

Pressemitteilung des Europäischen Gerichtshofs Nr. 13/02 vom 7. Februar 2002

Der Gerichtshof stellt im Fall einer Österreicherin, deren in Belgien zurückgelegte Kindererziehungszeiten bei der Feststellung ihrer Versicherungszeiten in der Altersversicherung nicht angerechnet wurden, fest, dass die österreichische Regelung mit dem Gemeinschaftsrecht unvereinbar ist.

Frau Kauer, die die österreichische Staatsangehörigkeit besitzt, ist Mutter von drei Kindern, die 1966, 1967 und 1969 geboren wurden. Nachdem sie im Juni 1960 ihr Studium abgeschlossen hatte, arbeitete sie von Juli 1960 bis August 1964 in Österreich. Im April 1970 verlegte sie mit ihrer Familie ihren Wohnsitz nach Belgien, wo sie nicht erwerbstätig war. Nach ihrer Rückkehr nach Österreich war sie wieder erwerbstätig und legte ab September 1975 Versicherungszeiten in der Pflichtversicherung zurück.

Die Gemeinschaftsverordnung über die soziale Sicherheit der Wanderarbeitnehmer und ihrer Familienangehörigen (Verordnung [EWG] Nr. 1408/71) ist aufgrund des Abkommens über den Europäischen Wirtschaftsraum (EWR) seit dem 1. Januar 1994 auf Österreich anwendbar. Der EG-Vertrag, der u. a. das Recht eines jeden Unionsbürgers auf Freizügigkeit und freien Aufenthalt im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten, den Grundsatz der Freizügigkeit der Arbeitnehmer und die Niederlassungsfreiheit vorsieht, trat für Österreich aufgrund seines Beitritts zur Europäischen Union am 1. Januar 1995 in Kraft.

Auf Antrag von Frau Kauer stellte die Pensionsversicherungsanstalt der Angestellten (im folgenden: Versicherungsanstalt) mit Bescheid vom 6. April 1998 fest, dass Frau Kauer bis zum 1. April 1998 355 Versicherungsmonate in der Pensionsversicherung nach österreichischem Recht zurückgelegt habe. Die in dieser Gesamtzahl enthaltenen 46 Monate von Juli 1966 - in diesem Monat wurde das erste Kind geboren - bis April 1970 - dem Monat des Umzugs nach Belgien - hatte die Versicherungsanstalt als Ersatzzeiten für die Kindererziehung gemäß dem österreichischen Gesetz (§ 227a des Allgemeinen Sozialversicherungsgesetzes) anerkannt.

Frau Kauer focht diesen Bescheid an. Ihrer Ansicht nach hätte die Versicherungsanstalt nicht 46, sondern 82 Monate als Ersatzzeiten für Zeiten der Kindererziehung anerkennen müssen, da die Zeiten, in denen sie ihre Kinder in Belgien erzogen habe, nach dem Gemeinschaftsrecht als Ersatzzeiten anzuerkennen seien.

Die Versicherungsanstalt wies dieses Begehren zurück. Der Oberste Gerichtshof hat als letztinstanzlich angerufenes österreichisches Gericht dem Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften die Frage vorgelegt, ob die Gemeinschaftsverordnung über die soziale Sicherheit der Wanderarbeitnehmer und ihrer Familienangehörigen in Verbindung - je nach Fallgestaltung - mit den genannten Grundsätzen des EG-Vertrags der österreichischen Regelung entgegensteht.

Nach der österreichischen Regelung gelten Kindererziehungszeiten, die in einem anderen EWR- Vertragsstaat oder einem anderen Mitgliedstaat der Europäischen Union zurückgelegt wurden, nur unter der zweifachen Voraussetzung als Ersatzzeiten für die Altersversicherung, dass sie nach dem Inkrafttreten der erwähnten Gemeinschaftsverordnung in Österreich zurückgelegt wurden und dass der Antragsteller für die betreffenden Kinder Anspruch auf eine Geldleistung aus dem Versicherungsfall der Mutterschaft oder entsprechende Leistungen nach dem Recht dieses Staates hat oder hatte, während diese Zeiten, wenn sie im österreichischen Inland zurückgelegt wurden, ohne zeitliche Begrenzung oder sonstige Voraussetzung als Ersatzzeiten für die Altersversicherung gelten.

Der Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften antwortet, dass eine nationale Regelung, die solche Voraussetzungen aufstellt, gemeinschaftsrechtswidrig ist.

Zur Voraussetzung, dass die Kindererziehungszeiten nach dem 1. Januar 1994 zurückgelegt wurden

Der Gerichtshof stellt fest, dass nach der Verordnung Nr. 1408/71 Sachverhalte, wie etwa die Zurücklegung von Versicherungszeiten oder Ersatzzeiten, die vor ihrem Inkrafttreten entstanden seien, für die Feststellung von nach ihrem Inkrafttreten entstandenen Leistungsansprüchen zu berücksichtigen seien. Wollte man eine solche Anerkennung davon abhängig machen, dass die betreffenden Zeiten nach dem Inkrafttreten der Gemeinschaftsverordnung für den betreffenden Staat zurückgelegt worden seien, so würde dies den in dieser Verordnung vorgesehenen Übergangsbestimmungen die praktische Wirksamkeit nehmen.

Eine zeitliche Begrenzung wie diejenige nach österreichischem Recht verstoße somit gegen die Gemeinschaftsverordnung.

Zu dem Erfordernis, dass ein Anspruch auf eine Geldleistung aus dem Versicherungsfall der Mutterschaft oder entsprechende Leistungen nach österreichischem Bundesrecht besteht oder bestanden hat

Der Gerichtshof stellt fest, dass mit der fraglichen nationalen Regelung im Hinblick auf die Feststellung der Versicherungszeiten und der Ersatzzeiten für die Altersversicherung eine Ungleichbehandlung eingeführt werde, da die im Inland zurückgelegten Erziehungszeiten ohne weiteres angerechnet würden, die Anrechnung von in einem anderen EWR-Vertragsstaat oder einem anderen Mitgliedstaat der Europäischen Union zurückgelegten Erziehungszeiten jedoch vom Anspruch auf Geldleistungen aus dem Versicherungsfall der Mutterschaft oder entsprechende Leistungen nach österreichischem Bundesrecht abhängig gemacht werde.

Wenn eine solche nationale Regelung auf die nach dem Beitritt der Republik Österreich zur Europäischen Union zurückgelegten Kindererziehungszeiten angewandt werde, sei sie geeignet, diejenigen Gemeinschaftsbürger zu benachteiligen, die in Österreich gewohnt oder gearbeitet und sodann als Arbeitnehmer, als Angehörige eines Arbeitnehmers oder als Unionsbürger von ihrem Recht auf Freizügigkeit und freien Aufenthalt in den Mitgliedstaaten, wie es im EG- Vertrag garantiert werde, Gebrauch gemacht hätten. Denn vor allem bei diesen Gemeinschaftsangehörigen stelle sich das Problem im Zusammenhang mit der Zurücklegung von Kindererziehungszeiten außerhalb Österreichs.

Falls, wie im Ausgangsverfahren, die nationale Regelung für Erziehungszeiten gelte, die vor dem Zeitpunkt der Anwendung der Gemeinschaftsverordnung in Österreich zurückgelegt worden seien, seien Ansprüche auf Altersrente, die nach dem Beitritt der Republik Österreich zur Europäischen Union - und sei es auch auf der Grundlage von vor diesem Beitritt zurückgelegten Versicherungszeiten - begründet worden seien, von den österreichischen Behörden in Übereinstimmung mit dem Gemeinschaftsrecht festzustellen, und zwar insbesondere den Bestimmungen des EG-Vertrags über die Freizügigkeit der Arbeitnehmer und über die jedem Unionsbürger zuerkannte Freiheit, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten zu bewegen und aufzuhalten.

Insofern sehe die Gemeinschaftsverordnung für die Feststellung von Leistungsansprüchen ausdrücklich die Anrechnung von Versicherungszeiten oder Ersatzzeiten vor, die zu einer Zeit zurückgelegt worden seien, in der die Freizügigkeit im Verhältnis zwischen dem betreffenden Staat und dem Staat, in dessen Gebiet die Zeiten zurückgelegt worden seien, per definitionem noch nicht gewährleistet gewesen sei. So könne der Umstand, dass Frau Kauer vor dem Inkrafttreten des EWR-Abkommens oder vor dem Beitritt der Republik Österreich zur Europäischen Union in Belgien gewohnt habe, als solcher einer Berücksichtigung dieser Zeiten bei der Berechnung ihrer Altersrente nicht entgegenstehen.

Werde jedoch für eine Anrechnung der in einem anderen Mitgliedstaat vor Inkrafttreten der Verordnung Nr. 1408/71 zurückgelegten Kindererziehungszeiten verlangt, dass ein Anspruch auf österreichische Leistungen bei Mutterschaft bestehe oder bestanden habe, so bestehe die Gefahr, dass diese Gleichstellungsvorschrift ins Leere laufe.

Daher verstößt nach Auffassung des Gerichtshofes das Erfordernis des Bestehens eines Anspruchs auf Geldleistungen aus dem Versicherungsfall der Mutterschaft oder auf entsprechende Leistungen nach österreichischem Bundesrecht gegen die Gemeinschaftsverordnung in Verbindung mit dem EG-Vertrag.

Originaltext des Urteils:

Urteil des Europäischen Gerichtshofes in der Rechtssache C-28/00:
Liselotte Kauer / Pensionsversicherungsanstalt der Angestellten