Anrechnung früherer Beschäftigungszeiten bei Festsetzung der Entlohnung

Auch Zeiten im EU-Ausland müssen berücksichtigt werden
( C - 195/98 vom 30.11.2000, Österreichischer Gewerkschaftsbund)

Der Fall:

Laut der österreichischen Vorschrift, welche die Anrechnung frührer Beschäftigungszeiten zum Zweck der Festsetzung der Entlohnung von Vertragslehrern und -assistenten regelt, werden Beschäftigungszeiten, die die Vertragsbediensteten in anderen Mitgliedstaaten zurückgelegt haben, nicht automatisch berücksichtigt. Dagegen werden nach derselben Vorschrift frühere Beschäftigungszeiten automatisch angerechnet, wenn diese in Österreich abgeleistet wurden.

Nach Ansicht des Europäischen Gerichtshofs verstößt diese österreichische Regelung gegen das Diskriminierungsverbot, da sie Wanderarbeiter benachteiligt, die einen Teil ihrer Laufbahn in einem anderen Mitgliedstaat zurückgelegt haben.

Das Urteil:

1. Der Oberste Gerichtshof ist bei Ausübung seiner Aufgabe nach § 54 Absätze 2 bis 5 des Arbeits- und Sozialgerichtsgesetzes ein Gericht im Sinne des Artikels 177 EG-Vertrag (jetzt Artikel 234 EG).

2. Artikel 48 EG-Vertrag (nach Änderung jetzt Artikel 39 EG) und Artikel 7 Absätze 1 und 4 der Verordnung (EWG) Nr. 1612/68 des Rates vom 15. Oktober 1968 über die Freizügigkeit der Arbeitnehmer innerhalb der Gemeinschaft stehen einer nationalen Bestimmung wie § 26 des Vertragsbedienstetengesetzes von 1948 über die Anrechnung früherer Beschäftigungszeiten zum Zweck der Festsetzung der Entlohnung der Vertragslehrer und Vertragsassistenten entgegen, wenn die Anforderungen an die in anderen Mitgliedstaaten zurückgelegten Zeiten strenger sind als diejenigen, die für an vergleichbaren Einrichtungen des betreffenden Mitgliedstaats zurückgelegte Zeiten gelten.

3. Die in anderen Mitgliedstaaten an Einrichtungen, die den in § 26 Absatz 2 des Vertragsbedienstetengesetzes von 1948 aufgezählten österreichischen Einrichtungen vergleichbar sind, zurückgelegten Zeiten müssen für die Berechnung der Entlohnung von Vertragslehrern und Vertragsassistenten zeitlich unbegrenzt berücksichtigt werden.

Die Pressemitteilung:

Urteil des Europäischen Gerichtshofes in der Rechtssache C-195/98: Österreichischer Gewerkschaftsbund, Gewerkschaft öffentlicher Dienst / Republik Österreich

Pressemitteilung des Europäischen Gerichtshofs Nr. 85/2000 vom 30. November 2000

Die österreichische Regelung der Entlohnung von Vertragslehrern und Vertragsassistenten ist mit dem Gemeinschaftsrecht nicht vereinbar.

Der Grundsatz der Freizügigkeit der Arbeitnehmer steht einer Regelung entgegen, die für die Berechnung der Entlohnung der Vertragslehrer oder Vertragsassistenten die in anderen Mitgliedstaaten erworbene Berufserfahrung nicht automatisch berücksichtigt.

Der Gewerkschaftsbund ist eine österreichische Gewerkschaft, die vor allem die Arbeitnehmer des öffentlichen Dienstes vertritt.

Die im Dienst der Republik Österreich stehenden Lehrer und Assistenten sind entweder Beamte oder Vertragsbedienstete.

Die österreichische Regelung über die Entlohnung des Lehrpersonals sieht vor, dass die Beschäftigungszeiten, die Vertragslehrer oder Vertragsassistenten in anderen Mitgliedstaaten zurückgelegt haben, nicht automatisch bei der Festsetzung ihrer Entlohnung und ihres Dienstalters berücksichtigt werden.

Nach derselben Regelung werden dagegen die früheren Beschäftigungszeiten, die bei einer österreichischen Behörde, einer öffentlichen Schule oder einer staatlich anerkannten Privatschule zurückgelegt worden sind, dem Tag der Einstellung des Betroffenen als Vertragsbediensteter automatisch zur Gänze vorangesetzt.

Der Gewerkschaftsbund erhob im Juli 1997 bei dem zuständigen österreichischen Gericht (Oberster Gerichtshof) Klage auf Feststellung, dass den Lehrern und Assistenten, die über eine frühere Berufserfahrung in anderen Mitgliedstaaten verfügen, vergleichbare Vorteile zustehen.

Der Oberste Gerichtshof legt dem Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften eine Frage nach der Vereinbarkeit der österreichischen Regelung mit dem Grundsatz der Freizügigkeit der Arbeitnehmer vor.

Der Gerichtshof stellt zunächst fest, dass die Ausnahmeregelung, nach der die Gemeinschaftsvorschriften über die Freizügigkeit der Arbeitnehmer keine Anwendung "auf die Beschäftigung in der öffentlichen Verwaltung" finde, nicht eingreife. Diese Regelung betreffe zudem nur den Zugang zu bestimmten Tätigkeiten in der öffentlichen Verwaltung, nicht aber die Bestimmung des Dienstalters zur Berechnung der Entlohnung.

Der Gerichtshof prüft sodann, ob die österreichische Regelung gegen das Diskriminierungsverbot verstoße. Dieses verbiete sowohl offensichtliche Diskriminierungen aufgrund der Staatsangehörigkeit als auch versteckte Formen der Diskriminierung.

Die österreichische Regelung betreffe vor allem die Wanderarbeitnehmer, benachteilige diese und beruhe nicht auf objektiven, von der Staatsangehörigkeit der betroffenen Arbeitnehmer unabhängigen Erwägungen.

Sie lasse die Berücksichtigung der in anderen Mitgliedstaaten erworbenen Erfahrung zur Gänze nur zu, wenn daran ein öffentliches Interesse bestehe und die zuständigen Behörden ihre Zustimmung erteilt hätten.

Nach alldem benachteilige die österreichische Regelung die Wanderarbeitnehmer, die einen Teil ihrer Laufbahn in einem anderen Mitgliedstaat zurückgelegt hätten.

Der Gerichtshof ist der Auffassung, der Verstoß gegen das Diskriminierungsverbot sei weder durch zwingende Gründe des Allgemeininteresses gerechtfertigt noch mit dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit vereinbar. Die von der österreichischen Regierung vorgebrachten Argumente- der Zweck der Mobilität der Beschäftigten innerhalb des österreichischen öffentlichen Dienstes, die Unterschiede zwischen dem öffentlichen Dienst in Österreich und in anderen Mitgliedstaaten sowie der Zweck, die Treue der betroffenen Bediensteten zu honorieren- seien nicht geeignet, diesen Verstoß zu rechtfertigen. Jedenfalls sei die Regelung im Hinblick auf den von der österreichischen Regierung geltend gemachten Zweck nicht verhältnismäßig.

Schließlich müßten die Beschäftigungszeiten in anderen Mitgliedstaaten für die Berechnung der Entlohnung der Lehrer zeitlich unbegrenzt berücksichtigt werden. Die vor dem Beitritt Österreichs zur Europäischen Union am 1. Januar 1995 zurückgelegten Zeiten seien daher anzurechnen.

Originaltext des Urteils:

Urteil des Europäischen Gerichtshofes in der Rechtssache C-195/98:
Österreichischer Gewerkschaftsbund, Gewerkschaft öffentlicher Dienst / Republik Österreich